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Ernst-Wilhelm Luthe: Maschinen statt Sozialarbeiter?
hinzugefügt: 5-07-2019
Sehr geehrte Nutzer,

ich bin in meiner Bewertung etwas ratlos angesichts der Tatsache, dass der Sozialsektor in den nächsten Jahren von einem gewaltigen Digital-Tsunami erfasst werden könnte, der keinen Stein auf dem anderen lässt. Dass Arbeitsplätze in Handel, Banken, Versicherungen und industrieller Fertigung hiervon betroffen sind dürfte sich herumgesprochen haben. Personennahe Dienstleistungen wie Sozialarbeit, Pflege oder Rehabilitation dagegen galten bislang als krisensicher. Ist diese Annahme heute noch realistisch?

Es hat sich gerade in den letzten paar Jahren viel getan. Die enormen Möglichkeiten des Ambient Assistet Living im Pflegebereich, die Vielfalt telemedizinischer Diagnose- und Kontrollverfahren, individualisierte Informationssysteme in zentral verwalteten Unterstützungsnetzwerken für Hilfesuchende aller Art bis hin zu Trainings-Apps in Bereichen der Prävention/Behandlung/Rehabilitation deuten vielmehr darauf hin, dass kaum etwas so bleibt wie es ist. Insbesondere der Forschungsstand im Bereich künstlicher Intelligenz und nicht zuletzt die Anwendung von „Predictive Analytics“ im US-amerikanischen Sozialsektor legen ein exponentielles Wachstum digitaler Sozial-Technologien auch in Deutschland nahe.

Das wohl krasseste Beispiel kommt aus der Jugendhilfe. So „zeigt eine fast unübersichtliche Anzahl an Studien und Meta-Analysen, dass statistische Verfahren weitaus treffsicherer das Risiko von Kindesvernachlässigung und – misshandlung einschätzen als alle diskursiven (bspw. Erörterung unter Fachkräften, der Verf.) oder interpretativen (bspw. Einschätzung durch die menschliche Fachkraft, der Verf.) Verfahren“ (m.w.N. vgl. Bastian/Schrödter, Arch. f. Wiss. u. Pr. der soz. Arb., Heft 2 2019, 46).

Gönnen wir uns eine schonungslose Diagnose und denken die Dinge an diesem Beispiel zumindest in juristischer Hinsicht zu Ende: Wenn nach Maßgabe des Untersuchungsgrundsatzes des § 20 SGB X, der die Behörden zu einer ordnungsgemäßen Aufklärung des Problemsachverhaltes verpflichtet, zumindest „Zweifel“ (in der Jugendhilfe fast der Normalfall) „unter Ausschöpfung aller Erkenntnisquellen zu beheben“ sind (so VGH Bad.-Württ. V. 7.6.2004 – 12 S 2654/03), so würde das bedeuten, dass die derzeitige Aufklärungsarbeit des Jugendamts im Falle von Kindeswohlgefährdungen ohne den Einsatz digitalisierter statistischer Verfahren über weite Strecken als mit § 20 SGB X unvereinbar und damit als formell-rechtswidrig eingestuft werden müsste. Zwar spricht speziell § 8 a Abs. 1 SGB VIII davon, dass die Risikoanalyse im „Zusammenwirken mehrerer Fachkräfte“ stattfinden soll. Die Vorschrift wird jedoch von § 20 SGB X überlagert und hierdurch für sämtliche gebotenen Maßnahmen der Sachverhaltsermittlung geöffnet, mithin auch für statistische Verfahren (zumal diese ein damit verbundenes Zusammenwirken von Fachkräften auch gar nicht ausschließen). Wer – rein vorsorglich - hierin jedoch eine Verpflichtung zur Beibehaltung des „menschlichen Faktors“ erblicken will, muss sich die Frage nach der Verfassungsmäßigkeit des § 8 a SGB VIII in seiner derzeitigen Fassung gefallen lassen. Denn ist das Kindeswohl allgemeine „Richtschnur“ für das staatliche Handeln (BVerfG v. 17.02.1982 – 1 BvR 188/80 sowie BVerfG v. 31.3.2010 – 1 BvR 2910/09), so kann ein Gesetz hiermit nicht in Einklang stehen, welches das Jugendamt im wohl wichtigsten Bereich seiner Arbeit zu suboptimaler, ja fehleranfälliger Verwaltungstätigkeit zum Nachteil von Kindern und Jugendlichen verpflichtet. Bedeutet das also - Maschinen statt Sozialarbeiter?

Mit den besten Grüßen
Ernst-Wilhelm Luthe