Theodor W. Adorno - Erziehung zur Mündigkeit

hinzugefügt: 07-07-2002
Taschenbuch broschiert, 147 Seiten, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2000 Preis: 6,50 €
ISBN 3-518-36511-8

Dieser Text ist eine Sammlung von Vorträgen und Gesprächen, die in der Zeit von 1959 bis 1969 im Hessischen Rundfunk gesendet wurden. Einer der bedeutendsten deutschen Philosophen und Soziologen des 20. Jahrhunderts, Theodor W. Adorno, setzt sich mit der Aufarbeitung deutscher Nachkriegsgeschichte auseinander, und hinterfragt mit psycho-analytischem Blick gesellschaftliche Verhältnisse und deren Zusammenhänge mit Fragen zur Erziehung eines "mündigen" Menschen.
Adorno bleibt jedoch nicht stehen vor der Mauer des Schweigens, vor den Folgen des ausgeschalteten Bewusstseins von Millionen hin zur moralischen Katastrophe, des fehlenden Bekenntnisses zur Barbarei im Dritten Reich - sondern er sucht nach Wegen des couragierten Miteinanders, das erlangt und bekräftigt werden kann durch Bildung und kritische Selbstreflexion. Eine "Harmonisierung der Welt" (S.59) jedoch widerstrebt ihm. Gerade die unkritische Hinnahme von Medien- und Bildungsinszenierungen vor, aber auch nach 1945 führte aus seiner Sicht zu einer (De)-Montage und Verfremdung des Realismus. Adorno sieht im aufkommenden Medium Fernsehen einerseits die Chance, Bildungsfunktionen zu übernehmen und fordert Raum für eine eigene Stellungnahme gegenüber Inhalten, andererseits entdeckt er die Gefahr der Technik, ideologisch zu verführen (Werte werden dogmatisch positiv geltend dargestellt) und Fallen zu stellen (Ablenkung und Abhängigkeit).
In "Tabus über den Lehrberuf" beschreibt Adorno Beobachtungen von akademischen Absolventen, die seiner Meinung nach einer psychologischen Deformation ausgesetzt sind, und sich in ihrer Institution Schule verhärten, "...zumal gegen Kritik" (S.85).
Der zweite Teil des Buches, der es dem Leser leichter macht, der Gedankenwelt des Autors zu folgen, behandelt eine Reihe von Komplexen zur Erziehung, die immer auch das Schaffen des Kritischen Theoretikers Adorno beeinflussten. Das Ungeheuerliche - Auschwitz und seine Folgen für die deutsche Nation, besteht für Adorno weiter fort, und die Forderung "...dass Auschwitz nicht noch einmal sei" (S.88) müsse für ihn die erste an Erziehung sein. Die Zivilisation selber trage die Barbarei in sich und Erziehung habe dagegen aufzubegehren (S.88). Adornos Ansatz, Erziehung v.a. in der frühen Kindheit zur Stärkung eines Charakters gegen Untaten konzentriert einzusetzen, vereint hier tiefenpsychologische Theorie mit der Kenntnis von sozialen Massenphänomenen. Doch die konkrete Gefahr eines menschenfeindlichen- und verachtenden Klimas geht aus von einem wiedererwachenden Nationalismus, dem Widerstand entgegenzubringen und der unabhängig von der Zugehörigkeit zu Verfolgten oder Schwächeren ebenso von jedem einzelnen zu leisten sei. Adornos Idee von Erziehung birgt aber nicht nur allein den Gedanken der Anpassung, der Menschen ausgesetzt, manchmal unterworfen sind, sondern geht weiter und fordert die "Herstellung eines richtigen Bewusstseins" (S.107), eben nicht Uniformität und Opportunismus, dafür verwirklichte Demokratie, gelebt in einer Gesellschaft von Mündigen.
Mündigkeit muß für Adorno konkretisiert werden. Sie ist herzustellen über eine Erziehung zum Widerspruch und zum Widerstand. Diese zentrale These ist es gerade, die in der Zeit kurz vor dem Tode Adornos und in den darauf folgenden Jahren der Bundesrepublik Deutschland alte Strukturen als autoritär und repressiv entlarvte und die Bildungslandschaft veränderte.
Erziehung zur Mündigkeit steht in einem historischen Kontext und kann seit der Zeit der Aufklärung als das klassische Bildungsideal angesehen werden.
Der pädagogische Begriff von Mündigkeit hingegen endet nicht mit der Übernahme von Verantwortung im Erwachsenenleben und gleichzeitig juristischer Volljährigkeit, er impliziert im Sinne Adornos mehr noch die Vorstellung vom politisch teilhabenden, sein Leben aktiv und aus Einsicht gestaltenden, freien und autonomen Menschen.
"Erziehung zur Mündigkeit" beleuchtet Vergangenes, Gegenwärtiges und stellt Fragen für die Zukunft von Erziehung. Adorno gibt sich dabei nie zufrieden mit intellektuell erhöhten Abhandlungen. Er weiß um die Wortgewalt, aber auch die Ausmaße einer heute immer komplexer werdenden Gesellschaft.
In ihr findet sich der Leser am Ende wieder mit der Aufforderung, die eigene Ohnmacht anzunehmen, sie nicht zu begraben, sondern kritisch zu prüfen und beginnen zu handeln.


Erschienen im Suhrkamp Verlag.

Rezension von Michael Horn