Benno Biermann: Soziologische Grundlagen der Sozialen Arbeit.
ISBN 978-3-8252-2879-8
Der emeritierte Münsteraner Soziologe Biermann hat ein Buch vorgelegt, das anders als es der Titel vermuten lässt nicht auf eine (soziologische) Begründung der Sozialen Arbeit hinaus will, sondern eine berufsbezogene Einführung in die Soziologie zum Ziel hat. Wäre eine Reflexion über die Grundlagen der Sozialen Arbeit in der fortgeschrittenen Moderne, über ihre Wirkungsmöglichkeiten in einer fragmentierten Gesellschaft zuforderst für Fachwissenschaftler von Interesse, so zielt Biermanns Einführung auf die sozialberufliche Praxis. Biermanns Ansatz ist also pragmatisch am Alltag orientiert. Soziologische Grundlagen sind so gewendet Beiträge, die in der sozialberuflichen Praxis von Bedeutung sein können (vgl. Biermann 2007: 10). Soziologie stellt in diesem Kontext ein Mittel der Reflexion dar, das auf die Praxis der Sozialen Arbeit, die Biermann als „Helfen“ und „Erziehen“ zusammenfasst, einwirken kann.
Auf das Handeln „der Fachkräfte angewandt, könnte er [der soziologische Blick, P.F.] eine berufliche Selbstkontrolle fördern, die nicht nur gelegentlich, sondern sozusagen handlungsbegeleitend-permanent die sozialen Bedingungen und Wirkungen des beruflichen Handelns und seine Legitimation, die Herkunft und Qualität der beruflichen Kompetenzen und die kulturellen Selbstverständlichkeiten ins Bewusstsein rückt, die all dem zugrunde liegen.“ Diese „Dauerreflexion“ (Schelsky) des sozialarbeiterischen Alltags ist ein hoher Anspruch, zumal Biermann einerseits um die Schwierigkeiten der Sozialen Arbeit im Umgang mit dem Grundlagenfach Soziologie weiss, andererseits grosse Teile der Praxisfelder der sozialen Arbeit gerade an einem Mangel an Reflexionskraft leiden und so zur Sozialtechnologie (ebd.: 120) erstarren können. Die Werkzeuge, die Biermann zum Zweck der Reflexion im folgenden an die Praktiker heranträgt, sind weitgehend klassische Instrumentarien der allgemeinen Soziologie.
Im 1. Kapitel werden die soziologischen Dimensionen des sozialen Handelns im sozialpädagogischen Praxiskontext erläutert, im 2. Abschnitt Werte und Normen erklärt, während sich der 3. Teil des Buches sozialen Rollen und Institutionen widmet. Bis hierhin sind z.B. die Grundbegriffe „Identität“, „Rolle“, „Inklusion“ und „Institutionen“ anhand einer pragmatischen Wendung anschaulich gemacht geworden. Dies gelingt mit Hilfe der mittlerweile üblichen Schaubilder mit unterschiedlichem Erfolg. Während sich das Modell der sozialen Rolle (ebd.: 66ff.) gut für einen Einstieg in die Soziologie eignet, bleibt dem Studenten der sozialen Arbeit vermutlich der Sinn des AGIL Schemas von Parsons verschlossen, auch wenn Biermann Strukturebenen anhand von Gruppen anschaulich erklären kann.
Das 4. Kapitel wendet sich der Verwissenschaftlichung und Professionalisierung der sozialen Arbeit zu und behandelt damit neben einer grundlagentheoretischen Diskussion um die Theoriebildung (Erklärung, Werturteile, Hypothesenbildung) auch das Verhältnis von Soziologie zur Sozialarbeit, in dem Biermann ganz im Sinne Max Webers die Aufgabe der Soziologie als die einer Wirklichkeitswissenschaft sieht, die Konzepte und Perspektiven entwirft, also fruchtbare Aussagen über ihren Gegenstand macht. Nur so könne Soziologie nützlich für die Soziale Arbeit sein.
Die letzten drei Abschnitte des Buches fragen nach sozialem Einfluss (5.), also nach Macht und Autorität in Hilfeprozessen, nach sozialen Gruppen und Organisationen und deren (aus soziologischer Sicht) relevanten Implikationen für eine soziale Praxis (6.), sowie nach sozialer Ungleichheit und dem Gesellschaftsbild der sozialen Arbeit (7.), in dem sich die Ungleichheit der Gesellschaft spiegelt.
Besonders dieser letzte Abschnitt verstärkt den Eindruck, dass Biermanns Einführung ein wenig „altbacken“ ist und die Begrenzung, die bei einem breiten Fundus innerhalb der Soziologie notwendig ist, nicht immer gelungen wirkt. Neben dem obligatorischen Bezug auf Marx nur wenig zu den klassischen Ansätzen der Schichtungstheorie zu sagen (Vgl. umfassender dazu: Müller/Schmid 2003), erscheint im Kontext einer Einführung durchaus legitim, doch gibt es bei Biermann z.B. auch keine strukturelle Gewalt (Vgl. klassisch dazu: Galtung 1975). Fruchtbar wäre es auch gewesen, das Zusammenwirken von sozialen Problemen und Ungleichheit anhand einer aktuelleren Theorie wie z.B. die der sozialer Schliessung (Vgl. Mackert 2004) aufzuzeigen, als allein auf das Modell sozialer Rollen zu setzen.
In Zeiten in denen von einer „Kolonialisierung der Lebenswelt“ die Rede ist und in denen der Kapitalismus neue Formen angenommen hat, gibt es eine Vielzahl an subtilen und manifesten Ungleichheiten, die auch in der Praxis der Sozialarbeit zu spüren sind. Ungleichheit, die sich z.B. in räumlichen Aspekten widerspiegelt, ignoriert Biermann ebenso wie aktuelle Theorieströmungen oder Diskussionen. Gerade die Debatte um eine Neuprogrammierung der sozialen Arbeit im Rahmen einer aktivierenden Sozialpolitik (Vgl. Kessel/ Otto 2004; Dahme/ Otto 2003) böte die Möglichkeit, aktuelle Veränderungen in der sozialen Praxis zu reflektieren und zu kritisieren. Kritik aber ist Biermanns Sache nicht. Im Gegenteil: seine Einführung wirkt stellenweise politisch affirmativ, wenn er z.B. den „Legitimitätsglauben“ des Sozialarbeiters beschwört: „Diese für das soziale Leben wohl unerlässliche Fähigkeit einer grundsätzlichen Akzeptanz sozialer Strukturen auch bei Meinungsverschiedenheit in der Sache erscheint nicht selbstverständlich und kann durchaus als Kennzeichen sozialer und politischer Reife betrachtet werden“ (Biermann 2007:126). Dass soziale Strukturen veränderbar sind gerät mit dieser „Reife“ ebenso aus dem Blickwinkel wie die Möglichkeit durch Politisierung sozialer Probleme Reformen herbeizuführen. Dass soziale Arbeit gegenwärtig unter besonders schwierigen Umständen zu „funktionieren“ hat bleibt unbetrachtet. Kein Wort fällt über die Veränderung der sozialen Praxis durch ein Sozialmanagement, welches zunehmend den Spiel- und Handlungsraum des professionellen Sozialarbeiters bestimmt.
Soziologie an die soziale Arbeit heranzuführen wie es Biermann im Nachwort schreibt, heisst bestenfalls auch, sie durch aktuelle Probleme und Entwicklungen anschaulich und für den Praktiker attraktiv zu machen. Während die gesellschaftliche Entwicklung der letzten Jahre sich massiv auch in der Praxis der Sozialen Arbeit niederschlägt, hätten Biermanns Soziologische Grundlagen ohne wesentliche Inhaltsverluste auch schon vor zwanzig bis dreissig Jahren erscheinen können. Dies schwächt zwar nicht unbedingt den Gewinn für denjenigen Sozialarbeiter, der einen Einstieg in die Soziologie sucht. Dass aber letztlich diese zur „akademischen Pflichtübung“ (Biermann) im Curriculum des Sozialarbeiters wird, liegt zum grossen Teil auch an einer biederen Auslegung des Faches, wo doch gerade Originalität und Zeitbezug als Motivationsstütze von Nöten wären.
Literatur:
- Dahme, Heinz-Jürgen/ Otto, Hans-Uwe/ Trube, Achim (Hg.): Soziale Arbeit für den aktivierenden Staat. Wiesbaden 2003.
- Fischer, Peter: Mitte, Maß und Mäßigkeit. Zur Idee und Relevanz eines gesellschaftlichen Mittebezuges. Hamburg 2007.
- Galtung, Johann: Strukturelle Gewalt. Beiträge zur Friedens- und Konfliktforschung. Reinbek bei Hamburg 1975.
- Kessel, Fabian/ Otto, Hans-Uwe (Hg.): Soziale Arbeit und soziales Kapital. Zur Kritik lokaler Gemeinschaftlichkeiten. Wiesbaden 2004
- Mackert, Jürgen (Hg.): Die Theorie sozialer Schließung. Tradition, Analysen, Perspektiven. Wiesbaden 2004.
- Müller, Hans-Peter/ Schmid, Michael: Hauptwerke der Ungleichheitsforschung. Wiesbaden 2003.
Rezensiert von P. Fischer
Zum Rezensenten:
Dr. Peter Fischer ist prekär beschäftigter Sozialwissenschaftler und Lehrbeauftragter an der HU Berlin. Schwerpunkte: Kultursoziologie, Ideen- und Fachgeschichte, Sozialpädagogik. Kontakt: peter.fischer@uni-muenster.de