Bütow, Birgit/ Chassé, Karl August/ Hirt, Rainer (Hg.): Soziale Arbeit nach dem Sozialpädagogischen Jahrhundert.

hinzugefügt: 17-01-2008
Positionsbestimmungen im Post-Wohlfahrtsstaat. Verlag Barbara Budrich: Opladen und Framington Hills 2008. Ausstattung/Bilder: 2007. 250 S.

ISBN-10: 3866491123


Besprochen von Dr. Peter Fischer
fischep@uni-muenster.de


Soziale Arbeit agiert gegenwärtig unter erschwerten Bedingungen. Verwahrloste Kinder, gewalttätige und gewaltbereite Jugendliche, defizitäre Schulsozialisationen, Integrationsprobleme von Migranten auf der einen – knappe Gelder, die Schliessung von sozialen Einrichtungen, Stellenstreichungen und der Einzug von betriebswirtschaftlichen und managerialen Steuerungsmechanismen im Alltag der Sozialen Arbeit (SA) auf der anderen Seite kennzeichnen ein breites Feld aktueller Entwicklungen. Es ist aber nicht nur die gefühlte Zuspitzung sozialer Probleme, die ein Nachdenken über die (theoretischen und praktischen) Rahmenbedingungen fordert; der Umbau des Sozialstaates, letztlich die Frage nach der gesellschaftlichen Legitimation der Sozialen Arbeit selbst, stellen die bisherige Theorie und Praxis auf die Prüfung.
Veränderungen, die auf die Praxis und Theorie der SA einwirken sind neben den gesellschaftlichen Problemen gegenwärtig auf vier weiteren Ebenen festzustellen:

  • Innerhalb der sozialstaatlichen Rahmenbedingungen, auf die die SA angewiesen ist.
  • Mit Blick auf die Ausbildungsstruktur der Sozialarbeiter und Sozialpädagogen, von der nach dem jüngsten Umbau zu befürchten ist, dass sie dem hohen Anspruch in Bezug auf ein reflexives Fachwissen nicht gerecht werden kann.[1]
  • Bzgl. der inneren Ordnung sozialer Institutionen, also z.B. der Zusammensetzung des Personals.
  • Und letztlich in Bezug auf die äußere Ordnung sozialer Institutionen, also z.B. den Trägern, Vereinen, etc.

Der vorliegende Sammelband reiht sich in eine Reihe von aktuellen Schriften (s. Literaturliste) ein, die auf eine Positionsbestimmung der SA in der Gegenwartsgesellschaft abzielen. Er fokussiert, mehr oder minder ausführlich, alle oben geschilderten Dimensionen, die auf die SA einwirken.

Zuforderst wird aber auf die Transformation des Sozialstaates als die wesentliche Kategorie, die Einfluss auf die praktische Umsetzung der SA nimmt, rekurriert. Die Transformation des Wohlfahrtsstaates ist gegenwärtig im vollen Gange, wenn nicht gar bereits vollzogen. Im Ergebnis ist ein unter neoliberalen Vorzeichen umgebautes Gebilde zu erkennen, das mit Leitbegriffen wie „Aktivierung“ und „Fördern und Fordern“ kaum mehr etwas mit der ursprünglichen Idee des Sozialstaates zu tun hat. Dass Ökonomisierung, Qualitätsmanagement und „Managerialism“ längst Einzug in den Alltag de SA genommen haben ist bekannt, doch scheint es, um mögliche Reaktionen zu initiieren, notwendig, eine kritische Gegenwartsdiagnose vorzulegen.
Wie die Transformation des Sozialstaates, bzw. die Einführung von ökonomischen Steuermodellen im sozialen Bereich Einzug in das populäre und politisch vorangetriebene Konzept der Bürgergesellschaft nehmen und dabei ein neues Bürgerbild entwerfen, welches eher dem alten aristotelischen Tugendmodell, denn dem Modell des emanzipierten Bürgers der Moderne gleicht, zeigen Lothar Böhnisch und Wolfgang Schröer (Dresden/ Hildesheim). Dass Bürgergesellschaft in ihrer historisch-soziologischen Dynamik, und daher in Deutschland anders als in den USA zu verstehen ist, scheint ihnen in den anhaltenden Diskursen kaum berücksichtigt.
Für den Bereich der Bildung, die zentrale Form der Sozialinvestition des Staates, sieht Michael Galuske (Kassel) eine dramatische Verkürzung: „Das Verständnis von Bildung wird reduziert auf eine Form der Aktivierung, des Fitmachens der Menschen für die Erfordernisse des Überlebens in der globalen Marktgesellschaft.“ (16). Auch Hans Thiersch (Tübingen) nimmt sich in seinem Aufsatz der Bildung an. Nach einer Skizze zur historischen Genese einer auf Gerechtigkeit zielenden Bildung und der Differenzierung der scholastischen von der sozialpädagogischen Bildung, entwirft er eine Utopie „bildender Bedingungen der Lebenswelt“ (125). SA nimmt für Thiersch hier die Position eines eigengewichtigen Moments in der Realisierung von Bildung ein.
Dass neben der Entwicklung der Modernisierung auch gegenwärtige Steuerungsmechanismen der Sozialpolitik stärker auf das Individuum zielen und somit einer gesellschaftlichen Entwicklung zur Individualisierung Rechnung tragen, wird mit dem Aufsatz von Rainer Hirt (Jena) deutlich. Doch wie ist pädagogisch auf die Individualisierung zu reagieren? Für Hirt ist die Lösung, die Hilfsangebote der SA zu individualisieren ebenso kontraproduktiv, wie er gleichzeitig die Bedenken gegen die Potentiale der Bürgergesellschaft teilt.

Heinz Jürgen Dahme und Norbert Wohlfahrt (Magdeburg/ Bochum) geben einen profunden Überblick über die Transformationen des Sozialstaates und sehen vor allem einen an betriebswirtschaftlichen Prinzipien orientierten Wandel (54), der das alte Prinzip der Hilfe zur Selbsthilfe in eine Hilfe zum Wettbewerb umdeutet. Im Ergebnis erkennen sie einen „Effizienzstaat“.

Die Rede vom „Post-Wohlfahrtsstaat“, eine weitere Etikette, die nicht unbedingt zur begrifflichen Klarheit beiträgt, die aber in den Untertitel des Bandes eingegangen ist, wird von Holger Ziegler (Münster) konkretisiert. Ihm zufolge basieren die Wissensgrundlagen der post-sozialstaatlichen SA auf ökonomischen Prämissen, die gleichsam ein neues Verhältniss von Gesellschaft und Staat beschreiben. Das post-sozialstaatliche Arrangement baut mehr denn je auf sozialpädagogischen Interventionslogiken personenbezogener Dienstleistungen. Es habe eine Neu-Definition von sozialen Problemen als personen-, verhaltens- und dispositionsbezogenen Problematisierungen (171) zufolge.

Diese Modernisierung der SA wird auch von Michael Winkler (Jena) diagnostiziert. Nach dem Ende des sozialpädagogischen Jahrhunderts, welches durch massive Veränderungen in der sozialpolitischen Ordnung markiert ist, sieht er drei mögliche Entwicklungslinien einer professionellen SA (200f.): 1. eine kapitalisierte Sozialpädagogik, die gegenwärtig mit der Dienstleistungstheorie gestützt wird. 2. eine marktförmig organisierte SP, die sich Problemen zuwendet und diese in Programmen bearbeitet. Und schliesslich 3. einen Restbereich, der unter staatlicher Kontrolle für Disziplinierung und Kontrolle zuständig ist.

Karl August Chassé (Jena) kritisiert mit Blick auf die Politik des Post-Wohlfahrtsstaates eine Moralisierung der sozialen Ungleichheit, die in dem Konzept der Eigenverantwortlichkeit aufgehoben ist und durch eine neoliberale Klassentheorie gestützt wird (71). Gesellschaftliche Kompensation sozialer Ungleichheit wird im Kontext dieser Umgestaltung durch das Chancenmanagement des Einzelnen ersetzt.
Verfolgt man die Entwicklung der Professionalisierung der deutschen SA in den letzten Jahren kritisch, so kann man die hier auftretenden strukturellen Probleme mit Michael Opielka (Jena) als Depolitisierung aufgrund von mangelnder politischer Reflektivität und als Deprofessionalisierung (137) begreifen.

Zusätzlich verstärken sich die Probleme innerhalb der professionellen SA durch einen demographischen Wandel, wie er von Roland Schmidt (Erfurt) beschrieben wird, durch eine nach wie vor anhaltende Ungleichverteilung im Hinblick auf die Geschlechterverhältnisse und Führungspositionen, wie Gudrun Ehlert/ Heidi Funk (Mittweida) aufzeigen und durch die Besonderheiten in Ostdeutschland, die Birgit Bütow (Dresden) und Karl August Chassé (Jena) als „Realexperiment“ verstehen.
Ernüchtert nimmt der Leser im Laufe der Lektüre zur Kenntniss, das SA nunmehr als Management für prekäre Lebenslagen und für die Bearbeitung sozialstaatlicher Fragen weiter denn je von emanzipativen Ansprüchen entfernt ist.

Der Abschnitt zu zukünftigen Funktionen und Legitimationen der SA fällt erwartungsgemäß dünner aus; dies auch, weil keine Patentrezepte auf der Hand liegen. Der Zwickmühle aus verstärkter Beanspruchung und unzureichender politischer und gesellschaftlicher Anerkennung zu entkommen scheint aber nur durch eine Politisierung der aktuellen Probleme der SA möglich. Erfreulich ist in diesem Zusammenhang die deutliche Stellungnahme der meisten Autoren, die einen Anspruch auf eine kritische Wissenschaft einlösen indem sie eine Zeitdiagnose mit der Kritik an hegemonialen Positionen (Neoliberalismus, Neue Rechte, Patchworkidentität, Subjektivierungsthese) verbinden. Der Sammelband liefert einen profunden Überblick über eine aktuelle und wichtige Diskussion.

Denn auch wenn die SA in ihrer Geschichte immer mit Krisenintervention und den Kehrseiten der Modernisierung in Verbindung gebracht wurde, scheint es, als sei sie sich zur Zeit weniger als je zuvor über ihre gesellschaftliche Position und kulturelle Legitimation im Klaren.


Literatur:

  • Anhorn, Roland/ Bettinger, Frank (Hg.): Sozialer Ausschluss und Soziale Arbeit. Positionsbestimmungen einer kritischen Theorie und Praxis Sozialer Arbeit. Wiesbaden 2004.
  • Böhnisch, Lothar/ Schröer, Wolfgang: Die soziale Bürgergesellschaft. Weinheim und München 2002.
  • Bracke, Reinhard: Neoliberalismus, Postmoderne und Soziale Arbeit - Von neuem Denken zu neuem Handeln? München 2007.
  • Dahme, Heinz-Jürgen/ Otto, Hans-Uwe/ Trube, Joachim/ Wohlfahrt, Norbert (Hg.): Soziale Arbeit für den aktivierenden Staat. Opladen 2003.
  • Danckwerts, Dankwart: Grundriß einer Soziologie sozialer Arbeit und Erziehung. Weinheim1981.
  • Dungs, Susanne/ Gerber, Uwe/ Schmidt, Heinz (Hg.): Soziale Arbeit und Ethik im 21. Jahrhundert. Ein Handbuch. Leipzig 2006.
  • Fischer, Peter. Mitte, Maß und Mäßigkeit. Zur Idee und Relevanz eines gesellschaftlichen Mittebezuges. Hamburg 2007.
  • Göttlich, Udo / Müller, Renate / Rhein, Stefanie / Calmbach, Marc (Hg.):
  • Arbeit, Politik und Religion in Jugendkulturen. Engagement und Vergnügen, Weinheim und München 2007 .
  • Hamburger, Franz: Grundriss der Pädagogik /Erziehungswissenschaft: Einführung in die Sozialpädagogik: Bd 17. Stuttgart 2007.
  • Hering, Sabine/ Urban, Ulrike (Hg.): Liebe allein genügt nicht. Historische und systematische Dimensionen der Sozialpädagogik. Opladen 2004.
  • Kleve, Heiko: Die Sozialarbeit ohne Eigenschaften. Fragmente einer postmodernen Professions- und Wissenschaftstheorie Sozialer Arbeit. Freiburg/Br. 2000.
  • Kluge, Sven: Vermisste Heimat? Zum emanzipativ-repressiven Doppelcharakter der Gemeinschaftsthematik innerhalb der modernen Pädagogik. Berlin 2008.
  • Kruse, Jan: Reflektierte Subjektivität als Programm einer professionellen Kultur Sozialer Arbeit, In: WIDERSPRÜCHE, Heft Nr. 96 Juni 2005, S. 49-60.
  • Merten, Roland (Hg.): Systemtheorie Sozialer Arbeit. Neue Ansätze und veränderte Perspektiven. Opladen 2000.
  • Mollenhauer, Klaus: Die Ursprünge in der Sozialpädagogik in der industriellen Gesellschaft. Weinheim 1987
  • Rauschenbach, Thomas: Das sozialpädagogische Jahrhundert. Analysen zur Entwicklung Sozialer Arbeit in der Moderne. Weinheim/München 1999.
  • Sünker, Heinz: Politik, Bildung und soziale Gerechtigkeit: Perspektiven für eine demokratische Gesellschaft. Frankfurt am Main, Berlin u.a. 2003.
  • Treptow, Rainer: Kultur und Soziale Arbeit. Münster 2001
  • Wilken, Udo (Hg.): Soziale Arbeit zwischen Ethik und Ökonomie. Freiburg/ Bg. 2000.
  • Wirth, Jan V.: Helfen in der Moderne und Postmoderne. Fragmente einer Topographie des Helfens. Heidelberg 2005.

[1] Dem Verfasser wurde auf ein Angebot einer Lehrveranstaltung zum Thema der veränderten kulturellen Grundlagen der Sozialen Arbeit seitens einer Berliner Hochschule und einer Fachhochschule mitgeteilt, dass trotz der Notwendigkeit eines solchen Veranstaltung bedauernswerterweise einerseits keine finanziellen Mittel, andererseits kein Raum innerhalb eines modularisierten Studienprogrammes vorhanden sei.
Mit Ivo Zürchers (München) Analyse im vorliegenden Sammelband kann daher gefolgert werden, dass Reflexionspunkte fachlichen Handelns zunehmend in die Praxis verlagert werden (213).