Katharina Liebsch/Ulrike Manz: Jenseits der Expertenkultur.

hinzugefügt: 29-07-2008
Zur Aneignung und Transformation biopolitischen Wissens in der Schule. Wiesbaden: VS Verlag 2007, 223 Seiten, Kartoniert
ISBN-10: 3531155113
ISBN-13: 9783531155111


Die Studie von Katharina Liebsch und Ulrike Manz untersucht, wie die Institution Schule auf veränderte Wissensformen reagiert und welche Strategien und Techniken Lehrkräfte entwickeln, um neue Wissensbestände im Unterricht zu integrieren. Diese Fragestellung verfolgen die Autorinnen exemplarisch am Komplex Biomedizin/Biotechnologie. Sie sehen neue Wissensformen vor allem durch vier Entwicklungstendenzen gekennzeichnet: Erstens werde Wissen immer stärker an Nützlichkeits- und Verwertbarkeitskriterien gemessen; zweitens beschleunigten zunehmend sich Entstehung, Transformation und Entwertung wissenschaftlichen Wissens; drittens werde das Versprechen auf Gewissheit, das sich mit der Produktion wissenschaftlichen Wissens verband, tendenziell durch die Einsicht in das wachsende Nicht-Wissen und die Kontingenz des Wissens abgelöst; viertens sei es notwendig, ethisch-politische Kriterien der Bewertung des neuen Wissens zu entwickeln.
Die Untersuchung will klären, ob die strukturelle Organisation von Bildungsinhalten, die didaktischen und methodischen Gestaltung des Unterrichts sowie das professionelle Selbstverständnis von Lehrerinnen und Lehrern den veränderten Anforderungen der Wissensvermittlung gerecht wird. Dieser Fragestellung sind die Autorinnen im Rahmen eines empirischen Forschungsprojekts nachgegangen. Sie führten insgesamt 22 leitfadengestützte Interviews mit Lehrerinnen und Lehrern unterschiedlicher Unterrichtsfächer an allen Schulformen (Haupt- und Realschulen sowie Gymnasien) im Bundesland Baden-Württemberg. Darüber hinaus analysierten sie die relevanten Lehrpläne und einschlägige Materialien zur Behandlung biotechnologischer und biomedizinischer Themen im Unterricht.
Bevor die Autorinnen ihre empirischen Untersuchungsergebnisse vorlegen, unternehmen sie im ersten Kapitel den Versuch einer „wissenssoziologischen Bestimmung schulischen Wissens“ (S. 13). Ihre konzeptionellen Überlegungen orientieren sich an drei theoretischen Bezugspunkten: Niklas Luhmanns Systemtheorie, Ulrich Becks Theorie reflexiver Modernisierung und Michel Foucaults Konzept der Gouvernementalität. Die Autorinnen arbeiten Blindstellen und Schwächen der beiden erstgenannten theoretischen Zugänge heraus und knüpfen dann vor allem an Foucaults Analyse des Verhältnisses von Wissen und Macht an; sie nehmen jedoch auch eine wichtige Weiterentwicklung und Veränderung dieser Forschungsperspektive vor. Sie begreifen neue Wissensformen weniger unter dem Gesichtspunkt wahr/unwahr denn als ein „relatives Wissen“. Dieses bezeichnet „diejenigen Wissensbestände, deren Wahrheitsgehalt kontextbezogen und situativ bestimmt wird. Es bezieht sich auf potenzielle Ereignisse und bildet die Grundlage für dilemmatische Entscheidungsanforderungen“ (S. 42).
Im zweiten Kapitel stellen Liebsch und Manz die Eigenheiten biomedizinischen und biotechnologischen Wissens heraus. Sie verweisen auf moralische Ambivalenzen im Umgang mit diesem Wissen und diskutieren die analytische Brauchbarkeit der von Foucault geprägten Begriffe der „Biomacht“ und der „Biopolitik“. In einem weiteren Schritt kritisieren die Autorinnen die Dominanz bioethischer Reflexionsformen und Deutungsmuster in der Debatte um den gesellschaftlichem Umgang mit menschlichem Leben und dem Körper. Diese fokussieren auf normative Problemstellungen und tragen tendenziell zur Ausblendung politischer und sozialer Fragen bei. Dann berichten die Autorinnen, wie biowissenschaftliche Themen bislang Eingang in die schulische Praxis gefunden haben. Die Spannbreite der Initiativen reicht von Formen des Bildungssponsorings zum Thema Biotechnologie/Biomedizin über Aktivitäten auf der Ebene von Kultusministerien und die Erstellung von Unterrichtsmaterialien bis hin zur Konzeption von Fortbildungen zu diesem Problemfeld. Die Analyse des Interviewmaterials in den folgenden Kapiteln zeigt, dass die befragten Lehrkräfte jedoch nur in relativ geringem Maße diese Materialien, Kooperationsmöglichkeiten und Weiterbildungsangebote für die Wissensvermittlung aufgreifen; sie entwickeln vielmehr eigenständige Strategien der Erschließung und der Aneignung des Themenfeld.
Im dritten Kapitel zeigen die Autorinnen, wie die Lehrenden das neue Wissen in bestehende Sinnbezüge und Werthorizonte integrieren. Das Interviewmaterial macht deutlich, dass die Befragten sich das Wissensfeld Biotechnologie/Biomedizin unter Rückgriff auf fünf „Weltbilder“ aneignen, die hier nur sehr verknappt wiedergegeben werden können. Eine erste Gruppe bilden technikbegeisterte Lehrkräfte, die die Verheißungen biotechnologischer und medizinischer Innovationen ins Zentrum ihres Unterrichts stellen. Zugleich werden potenzielle Risiken und Gefahren dethematisiert oder verharmlost (etwa wenn Gentechnologie als Fortsetzung der traditionellen Züchtung dargestellt wird). Eine zweite Gruppe von Lehrenden orientiert sich im Unterricht an den Grundsätzen der christlichen Religion. Die Auseinandersetzung mit biomedizinischen und biotechnologischen Fragen dient hier dazu, den Schülerinnen und Schülern ein christliches Wertesystem und „Ehrfurcht vor dem Leben“ zu vermitteln. Die dritte Gruppe verbindet biowissenschaftliche Fragestellungen mit einem politisch-ethischen Engagement. Diese Lehrkräfte stellen biomedizinische und biotechnologische Innovationen in den Kontext aktueller gesellschaftspolitischer Entwicklungen und thematisieren etwa die Rolle von Individualisierungsprozessen oder Fragen der Verteilungsgerechtigkeit. Eine vierte Gruppe von Lehrkräften begreift biotechnologische und biomedizinische Themen vorwiegend als eine methodisch-didaktische Herausforderung für die Unterrichtspraxis. Vorherrschend ist hier die Einschätzung, dass diese Fragen in den Bereich privater Entscheidungen gehören und prinzipiell alle möglichen Positionen begründungsfähig sind. Die Antworten der letzten Gruppe sind von einem pädagogischen Pragmatismus geprägt. Ihre Mitgliedern sehen nicht nur eine geringe Gestaltungskraft ihrer Arbeit, sie haben auch ein relativ beschränktes Bildungsziel: Ihnen geht es weniger um die Stärkung der Urteilsbildung, sondern darum, dass sich Schülerinnen und Schüler mit den Folgen der Technologie beschäftigen und sie verschiedene Positionen kennen lernen.
Die Autorinnen begreifen die fünf Typisierungen des Umgangs mit biopolitischen Wissensbeständen in der Schule als einen Mechanismus der Veralltäglichung wissenschaftlichen Wissens. Die Orientierung an einem „Weltbild“ hat letztlich ambivalente Effekte, da sie die Auseinandersetzung mit bestimmten Wissensinhalten zugleich ermöglicht wie begrenzt: Einerseits macht sie biotechnologische und biomedizinisch Inhalte für den schulischen Unterricht anschlussfähig; andererseits wird auf diese Weise aber auch das Innovative und Spezifische der Thematik eher verdeckt als sichtbar gemacht.
Im vierten Kapitel beschreiben die Autorinnen verschiedene „Rationalitäten“, die es den Lehrkräften erlauben, biowissenschaftliches Wissen zum Gegenstand der Unterrichtspraxis zu machen. Unter Rationalitäten verstehen sie „empirisch auffindbare Plausibilisierungsstrategien oder Logiken des Verstehens und Verhandelns“ (S: 138), auf deren Grundlage die neue Thematik von den Lehrenden strukturiert und im schulischen Unterricht aufbereitet und zugänglich gemacht wird. Die Analyse des Materials zeigt drei Rationalitäten. Ein erster Typ operiert mit der Unterscheidung von Fakten und Normen, objektiven Tatsachen und subjektiven Meinungen – eine Trennungslinie, die sich ironischerweise besonders schwer im Bereich Biotechnologie/Biomedizin aufrechterhalten lässt (gleichwohl hielten alle befragten Lehrkräfte prinzipiell an dieser Unterscheidung fest). Die zweite Strategie stellt die Historizität und Lebensweltorientierung von Erfahrungen heraus. Der Einsatz von fiktiven Erzählungen, Fallgeschichten, Filmen und Presseberichten bildet ein wichtiges Hilfsmittel im Unterricht und etabliert Erfahrung als ein Mittel der Kritik und der Skandalisierung. Eine dritte Rationalität kennzeichnen die Autorinnen als „Logik des Authentischen“. Demnach gelten biopolitische „Entscheidungen dann als begründet und nachvollziehbar, wenn sie einer Kohärenz und Charakterlichkeit der Individuen folgen“ (S. 169). In dieser Perspektive werden die im Unterricht artikulierten biopolitischen Urteile von den Lehrkräften als individuell getroffene Entscheidungen verstanden, die in der Persönlichkeit des Einzelnen oder der Einzelnen begründet sind und sich einer allgemeinen Beurteilung und reflexiven Überprüfung entziehen.
Die Autorinnen zeigen, dass dieser zentrale Bezug auf „Erfahrung“ im Unterricht eine Reihe von Problemen aufwirft. Die rationale Abwägung von Alternativen und Optionen wird oft für unnötig gehalten oder gegenüber betroffenheitsgeleitetem „echten“ Handeln abgewertet. Die herausgehobene Bedeutung von Erfahrungswissen drängt nicht nur Reflexionswissen in den Hintergrund; es geht auch die Einsicht verloren, dass Erfahrungswissen sehr voraussetzungsvoll ist und keineswegs einfach gegeben oder unmittelbar zugänglich ist. Darüber hinaus wird im Unterricht häufig mit der Annahme operiert, dass ein direkter Zusammenhang bestehe zwischen lebensweltlichen Erfahrungen und Handlungsmotiven von Individuen. Letztlich kommen die Autorinnen zu dem Fazit, dass sich die „Plausibilisierungsversuche letztlich als nicht wirklich tragfähig erweisen“, da der „Rekurs auf individuelle Erfahrungen und Betroffenheit die Vielfältigkeit von Entscheidungskriterien auf nur eine Dimension verkürzt“ (177).
Im Mittelpunkt des fünften Kapitels steht das implizite Wissen, das in den schulischen Routinen zum Ausdruck kommt. Das Interviewmaterial zeigt, die immer wieder notwendige Aktualisierung und Überprüfung des Wissens die meisten Befragten überfordert. Auf den Prozesscharakter und die Kontextualität des Wissens reagieren die Lehrkräfte selten mit der Öffnung oder kritischen Befragung etablierter Handlungspraktiken; meist werden im Gegenteil schulische Routinen bekräftigt und weitergeführt. Insgesamt zeigt sich, dass die Lehrkräfte die mit biotechnologischen und biomedizinischen Wissen verbundene Pluralisierung von Bedeutungsinhalten und die Irritation etablierter Analyse- und Beurteilungsformen im schulischen Alltag reduzieren und in vorhandene Wissensbestände integrieren.
Die materialreiche Studie erlaubt einen detaillierten Einblick in die Unterrichtsroutinen, die Handlungsmotive und das professionelle Selbstverständnis der Lehrenden. Sie überzeugt durch eine anschauliche Präsentation und eine gelungene Typisierung des Interviewmaterials. Auf diese Weise wird sehr plastisch, welche Strategien und Techniken Lehrkräfte in der Auseinandersetzung mit dem biowissenschaftlichen Wissen entwickeln. Originell ist auch der Einsatzpunkt der Analyse. Liebsch und Manz gehen den sozialen Implikationen biotechnologischen und biomedizinischen Wissens nicht auf der Hochebene politischer Kontroversen, bioethischer Debatten und medialer Diskurse nach, sondern richten die Aufmerksamkeit auf die Niederungen des Alltagshandelns. Sie lassen die Leser teilhaben an den provisorischen und tastenden Versuchen der Lehrkräfte, ein neues Wissensgebiet zu gestalten und neue Wissensinhalte zu vermitteln. Da entsprechende Lehrpläne oder institutionelle Vorgaben nicht oder nur in sehr geringem Umfang existieren, bleiben die Lehrerinnen und Lehrer meist auf sich allein gestellt.
Ein weiteres Verdienst der Arbeit besteht in der Doppelperspektive, die sie ins Werk setzt. Den Autorinnen gelingt es zum einen die Vielfältigkeit und Heterogenität der Leitbilder, Rationalitäten und Techniken in den Blick zu nehmen, die für die Lehrkräfte im Rahmen der Unterrichtsgestaltung maßgebend waren. Deren Spannbreite reicht von der Normalisierung biowissenschaftlichen Wissens (bei den technophilen Lehrkräften) bis hin zu dessen Skandalisierung (bei den religiös orientierten Lehrerinnen und Lehrern). Zum anderen zeigt das Material aber auch gemeinsame Hintergrundannahmen und übergreifende Orientierungsmuster, die den Eindruck der Autorinnen bestätigen, dass die von den Lehrkräften praktizierte Form der Wissensmittlung an den Besonderheiten des neuen Wissens vorbeigeht. Nicht nur teilen alle Lehrenden die Einschätzung, dass eine Unterscheidung in Fakten und Normen notwendig sei, sie bekräftigen auch – wenn auch in unterschiedlicher Weise – die Bedeutung der Erfahrungs- und Betroffenheitsdimension, während argumentative Abwägungs- und Reflexionsprozesse meist in den Hintergrund treten.
Ein Problem der Studie ist, dass sie die Begriffe Biopolitik, Bioethik, Biotechnologie und Biomedizin nicht sorgfältig voneinander trennt bzw. sie in der Regel synonym verwendet. Eine präzisere Begriffswahl wäre wünschenswert, um die Spezifität der einzelnen Begriffsfelder herauszuarbeiten. Zwar beziehen sich die Autorinnen im zweiten Kapitel positiv auf Foucaults Begriff der Biopolitik und markieren eine kritische Distanz zum bioethischen Diskurs. In der Studie verwischen sich diese Grenzziehungen jedoch und es ist abwechselnd von biotechnologischem, biopolitischem oder bioethischem Wissen die Rede. Sinnvoller wäre es, vom Komplex „Biotechnologie/Biomedizin“ als Gegenstand der Wissensvermittlung in der Schule zu sprechen, um den Begriff der Biopolitik als Analysekategorie zu verwenden und „Bioethik“ als eine bestimmte Form der gesellschaftlichen Auseinandersetzung mit diesem Wissen zu kennzeichnen.
Der Titel der Arbeit wirft die Frage nach dem Verhältnis von Expertenwissen und Laienwissen im Kontext der schulischen Wissensvermittlung auf. Die Antworten der befragten Lehrkräfte legen nahe, dass sie sich keineswegs „jenseits der Expertenkultur“ befinden, sondern vielmehr bestimmte normative Leitideen und epistemologische Grundannahmen wie die Trennung zwischen Fakten und Meinungen oder die Bedeutung des Anwendungsbezugs wissenschaftlichen Wissens auch und gerade für „Laien“ Gültigkeit besitzen.
Offenbar haben die Schule bzw. die dort Lehrenden (noch) nicht die richtigen Antworten auf die Herausforderung durch das biotechnologische und biomedizinische Wissen gefunden. Die Ergebnisse der Studie von Liebsch und Manz machen deutlich, dass dafür nicht nur die Entwicklung neuer Lehrkonzepte, Weiterbildungsangebote und der Bereitstellung von Unterrichtsmaterialien notwendig ist; es ist darüber hinaus erforderlich, Hintergrundannahmen und Handlungsroutinen schulischen Unterrichts in Frage zu stellen, die eine angemessene Vermittlung und Aneignung des neuen Wissens eher behindern als fördern.

Rezension von Thomas Lemke