Sacha Neumann/ Philipp Sandermann (Hg.): Kultur und Bildung

hinzugefügt: 25-06-2009
Neue Fluchtpunkte für die sozialpädagogische Forschung?
VS Verlag 2009, 238 S.

ISBN: 978-3-531-16193-8

Kultur und Bildung als neue Fluchtpunkte für die sozialpädagogische Forschung? Der Titel dieses Sammelbandes, der aus einer Arbeitsgruppe auf dem 21. Kongress der DgfE resultiert, wirft auf den ersten Blick einige Fragen auf. Ist z.B. das Konzept der Bildung nicht bereits ursprünglich eng mit dem der Erziehung und deshalb auch mit der Sozialpädagogik verknüpft? Und, so ließe sich ferner nachhaken, hat nicht die breite Diskussion um Chancen und Grenzen der Multikulturalität und Interkulturalität in den 1990er Jahren auch Spuren in der sozialpädagogischen Forschung hinterlassen? Vor diesem Hintergrund ist das Fragezeichen hinter dem Titel durchaus bewusst gewählt und zielt nicht auf die bisherige Verknüpfung von Sozialpädagogik mit Bildung und Kultur, sondern bezieht sich auf ein „neues“ Paradigma: dem „cultrual turn“, der nun auch die sozialpädagogische Theoriebildung erfasst hat. Im Fokus des Interesse des von Sascha Neumann (Ludwigsburg) und Phillipp Sandermann (Berlin) herausgegebenen Bandes steht also die Frage nach dem Ertrag einer von der Sozialpädagogik adaptierten kulturalistischen Perspektive.
Bekanntermaßen hat der „cultural turn“ in den Sozialwissenschaften das Konzept der Kultur zu einer empirisch handhabbaren Größe zugeschnitten und letztlich zu einer neuen Perspektive auf das Soziale unter den Vorzeichen von Sinnhaften und Symbolisierungen geführt. Diese Perspektive beansprucht auch das Spannungverhältnis zwischen Struktur und Kultur aufzulösen. Bekannt ist allerdings auch die Kritik an eine kulturalistischen Perspektive, der nunmehr z.B. alles als Kultur erscheint, was zuvor noch sozial war.
Mit dem Einzug des „cultural turns“ in die sozialpädagogische Theoriebildung ist zunächst ein mindestens doppelter Perspektivenwechsel verbunden: Auf die Soziale Arbeit als Profession (aus kulturalistischer Sicht) und aus dieser heraus auf ihren Gegenstand (mit kulturalistischen Blick). Doch ist zu fragen, „was man über die Soziale Arbeit erfährt, wenn sie in dieser [kulturtheoretischer oder bildungstheoretischer, P.F.] Weise beschrieben wird. Zugleich stößt man in umgekehrter Richtung auf die Frage, was die Soziale Arbeit sieht, wenn sie ihre Erfahrung einer für sich noch unbestimmten Wirklichkeit im Medium einer Kultur- und bildungstheoretischen Perspektivität organisiert“ (Neumann/ Sondermann 2009: 13).
Die Antworten die in dem vorliegenden Band auf diese Frage gegeben werden sind keineswegs einheitlich, noch sind sie umfassend. Zeitweilig wird gar der Eindruck erweckt, dass eine Antwort nicht gesucht wird oder nur von geringem Interesse ist. Der Leser findet sich demnach eher auf einer Baustelle der sozialpädagogischen Theoriebildung wieder, die Chancen und Möglichkeiten eines „cultural turns“ abwägt. Sicherlich ist hierbei viel über das Selbstverständnis einer sozialpädagogischen Theorie auf dem schwierigen Weg zu einer Sozialarbeitswissenschaft zu erfahren, die auch hier spürbar im Spannungsverhältnis zwischen Wissenschaft und sozialer Praxis manövriert. Doch es bleibt ein Unbehagen nach der Lektüre des Bandes auf das nachgehend stärker eingegangen werden soll. Die Aufteilung des Buches ist unter Berücksichtigung der oben beschriebenen doppelten Perspektive geschehen und erweitert diese um eine metatheoretische. So findet sich im Inhaltsverzeichnis: 1. Soziale Arbeit – kultur- und bildungstheoretisch betrachtet. 2. Beobachtungen des Beobachtens – Kultur- und Bildungstheorie der Sozialen Arbeit. Und schließlich 3. Kultur und Bildung – sozialpädagogisch betrachtet.
Eine Evaluation der neuen Ausrichtung kann nach Auffassung des Rezensenten vor allem unter folgenden Fragestellungen geschehen: Was sieht man mehr mit dem kulturalistischen Blick? Wie äußert sich dieser Mehrwert in der sozialen Praxis, auf die eine Theorie doch immer zielt.
Einige Beispiele aus dem Band können zunächst einen Einblick in die Heterogenität, um nicht zu sagen Beliebigkeit, der Betrachtung geben und gleichzeitig den ebenso vielfachen Verwendungskontexte der Begriffe Kultur und Bildung in der Sozialpädagogik offenlegen. Die Frage nach dem theoretischen und praktischen Mehrwert erfolgt im Anschluss, und im direkten Bezug auf die Beispiele.
Rainer Treptow (Tübingen) weiß mit dem „cultural turn“ das Primat des Gesellschaftlichen herausgefordert, doch ist es für ihn auch wichtig nach den kulturellen Grundlagen der sozialen Arbeit zu fragen. Notwendigerweise trennt er daher zunächst die Sozialarbeit von der Kulturarbeit. „Soziale Arbeit greift auf die kulturellen und normativen Bestände einer an Prinzipien sozialer Unterstützung von Menschen in schwierigen Lebenslagen orientierten demokratischen Zivilgesellschaft zurück.“ Hingegen: „Kulturarbeit greift auf die soziale Konfiguration gegebener Gesellschaften zurück und entwickelt sich nach der Seite der ästhetischen Aneignungs- und Ausdruckformen.“ (ebd.: 29) Die kulturellen Bedingungen der Bildung können nach Treptow jedoch allenfalls als eine die Sozialpädagogik ergänzende Aufgabenbeschreibung angesehen werden. „Kulturelle Bedingungen der Bildung sind diejenigen, die Menschen in je gegebenen sozialen Lebenslagen in Form von Aneignungs- und Gestaltungsmöglichkeiten vorfinden, um ihre eigenen Lernprozesse reflexiv zu befragen (...). Die allgemeine Aufgabe der Sozialpädagogik besteht, diesem Verständnis folgend, darin, in sozialräumlichen Milieus zu beobachten, worin solche kulturellen Bedingungen der Selbstbildung bestehen.“ (ebd.: 31) Bildung und Kultur stehen demnach im Wechselverhältnis. Auch hier gilt, dass Kultur und Bildung als Kontexte der Reflexion die Soziale Arbeit beeinflussen. Nachfolgend versucht Treptow das Wechselverhältnis von Kultur und Bildung am Beispiel der Erinnerungskultur zu verdeutlichen., dies scheint ihm allein schon deshalb sinnvoll, weil auch Selbtbildung und Erinnerung in einem Spannungsverhältnis stehen. (ebd. 33f.) Selbstbildung bedarf der Unterstützung durch Erinnerungskultur.
Georg Cleppien (Rostock) geht von einer Verunsicherung professioneller Sozialpädagogen seit den 1980er Jahren aus. Dies führt den Autor in Anlehnung an Thiersch zu der Frage: „Was zählt im sozialpädagogischen Geschäft?“ (ebd.: 87) Die von ihm gegebene Antwort: „realisiertes professionelles Handeln“ (88), kann allerdings nicht über zahlreiche Widersprüchlichkeiten und ambivalente Anforderungen im sozialpädagogischen Feld hinwegtäuschen. Die anschliessende Diskussion des „Abenteuers“ (als Herausforderung des Sozialpädagogen) vermisst den Möglichkeitsraum zwischen Anforderungen und Widersprüchlichkeiten in denen der professionelle Sozialpädagoge agiert. Auf dem Weg zu einer, von Cleppien merklich undifferenzierten, Kultur der Bewährung, die sich aus Cleppiens Diskussion um Krise und Existenz ergibt, sieht sich der Autor gar gezwungen Abenteuer und Krise Existenzphilosophisch zu umreißen: „Mit Blick auf die Position von Martin Heidegger – lässt sich sagen, dass eine Person dann eigentlich existiert, wenn sie institutionell gegebene – nicht etwa nur gegenwärtig sich anbietende, sondern auch und gerade geschichtlich wiederholbare – Handlungsregeln (oder: Maximen) in existentiellen Modifikation sich so aneignet, dass sie nicht nur ihnen gemäß, sondern gleichsam aus ihnen heraus handelt.“ (ebd.: 94) Symptomatisch scheint, dass Cleppien keine abschließende Antwort geben will und kann, auf die Frage nach dem was zählt im sozialpädagogischen Geschäft. Die Rede von den „Kulturen der Bewährung“ und den Metaphern „Krise“ und „Abenteuer“ dient ihm lediglich als intellektuelles (Sprach-) Spiel, dass allein in einer Summe neuer fragen endet: „Abschließend lässt sich der Zugang zur Frage, was im sozialpädagogischen Geschäft zählt, selbst wiederum befragen“. (ebd.: 107). Oder: „Aber es lässt sich auch die Frage stellen, ob der Fragende solcher Fragen sich nicht gleichsam auch als Abenteurer deutet, der das Fragestellen und das Antworten als Wagnis versteht. Am Ende bleibt dann die Möglichkeit, die Frage selbst als eine Antwort (Resposnivität) oder als einen Entwurf (Intentionalität) zu deuten.“ (ebd.: 108)
Bettina Hünersdorfs (München) Artikel zur „Reflexionstheorie des Hilfesystems als Kulturtheorie“ sucht nach den Möglichkeiten einer kulturtheoretisch fundierten systemtheoretischen Weiterentwicklung einer Theorie der sozialen Arbeit. Einschränkend muss die Autorin jedoch gleich zu Anfang bekennen, dass der Begriff der Kultur keine, bzw. nur eine sehr geringe Relevanz in der Systemtheorie spielt. Hünersdorfs Bemühungen vereinzelte Hinweise für ein Verwendung des Begriffs Kultur bei Luhmann zu finden und dann an diesen anzuknüpfen wirken ein wenig „gekünstelt“, reihen sich aber in einer Reihe anderer aktueller Versuche ein, die Systemtheorie als Kulturtheorie umzudeuten. Reicht im vorliegenden Fall die Vorstellung von Kultur als „das Ergebnis der Wiederholung und der Variation der semantischen Strukturen der Funktionssysteme“ um einen Begriff von Kultur zu erlangen? (vgl. ebd.: 173) Hingegen gelingt es der Autorin die Systemtheorie anhand der Modelle der Exklusionsvermeidung, Inklusionsvermittlung und Exklusionsverwaltung auf das Hilfesystem runterzubrechen und somit einen Anschluss an Probleme wie z.B. soziale Ungleichheit und deren Reproduktion zu ermöglichen. „Durch die systemtheoretische Perspektive kann jedoch deutlicher als gemeinhin auf die spezifischen Möglichkeiten und Grenzen dieses Einflusses [der SP innerhalb des Diskurses über die Sicherheitsgesellschaft, P.F.] hingewiesen werden. (ebd.: 185)
Anhand der drei in Kürze dargestellten Beispiele kann also die Frage noch einmal gestellt werden: Was sieht die sozialpädagogische Theorie mehr mit einem kulturalistischen Blick? Wie äußert sich dieser Mehrwert in der sozialen Praxis auf welche die Theorie zielt. Sicherlich gilt: „Das zu Beschreibende wandelt sich simultan mit der Form seiner Beschreibung“ (ebd.: 138). Zudem kommt, dass die Autoren und Autorinnen durchgehend auf einem hohen Reflexionsniveau argumentieren, welches allein schon sprachlich sich in die nähe einer Kulturtheorie begibt.
Treptows Frage nach den kulturellen Grundlagen der sozialen Arbeit scheint durchaus wichtig, doch sind Antworten die vor allen auf den Zeitgeist einer Gesellschaft eingehen nicht erst auf eine neue kulturalistische Perspektive angewiesen. Hingegen scheint mir hier ein Aufklärungspotential auch für die professionellen Sozialarbeiter verborgen. Cleppien wendet die alte Frage nach der Professionalitat in der Sozialpädagogik konsequent kulturalistisch, jedoch bleibt bei den Sprachspielen ein Blick für die Praxis verstellt und selbst der Erkenntniswert für die Theoriebildung müsste erst noch herausgearbeitet werden. Dass Hünersdorf die Grenzen und Möglichkeiten soziapädagogischer Einflussnahme innerhalb des sozialen Hilfesystems aufzeigen kann und somit einen Beitrag zum Verständnis der Praxis leistet ist offensichtlich. Nur braucht sie dazu gerade nicht auf einen kulturalistischen Blick zurückzugreifen.
In Summa sieht die Sozialpädagogik also etwas anderes mit einer kulturalistischen Brille, nur scheint die Frage, wie mit den neuen Erkenntnissen umzugehen ist nicht geklärt. Es verwundert daher nicht, dass auch Neumann und Sandermann nicht nur hart mit der sozialpädagogisch gewendeten Theorie der Gouvernementalität ins Gericht, sondern allgemein eine Skepsis an der neuerlichen Wende formulieren: „So kommt der Verdacht auf, dass Überformungsprozesse bei sozialpädagogischen Theorieimporten mehr mit der Rezeptions-, und damit auch mit der generellen Argumentations- und Legitimationspraxis der sozialpädagogischen Disziplin zu tun haben könnten, als mit den importierten theoretischen bzw. analytischen Vokabularen selbst.“ (ebd.: 160)

Rezension von P. Fischer

Dr. P. Fischer ist Sozialpädagoge und Soziologe und derzeit Honorardozent am JFK-Institut der FU Berlin.