Dorst, Brigitte u.a. (Hersg.): Wissen und Weisheit - interdisziplinär
ISBN: 978-3-530-50610-5
Weisheit als notwendige Kompetenz zur Wissensanwendung
Auf der Jahrestagung 2009 der internationalen Gesellschaft für Tiefenpsychologie Stuttgart wurde das Thema „Wissen und Weisheit – interdisziplinär“ behandelt. Das Buch stellt eine Zusammenfassung der dort gehaltenen Vorträge dar. Ziel der Gesellschaft ist einzig, über Fakultäten hinweg den Austausch zu suchen und zu ermöglichen, aus verschiedenen Perspektiven heraus Themen zu bearbeiten, die Menschen bewegen.
In diesem Sinne ist das Thema der Jubiläumsveranstaltung 2009 bewusst und treffend gewählt. Im Rahmen einer expliziten Wissensgesellschaft stellt sich vermehr die Frage nach der althergebrachten Kompetenz der Weisheit. Was geschieht letztlich mit der Informationsflut, die für sich allein zunächst kaum mehr als ein Halbwissen in den Raum setzt? Wissen allein ist zuwenig, die rechte Anwendung des Wissens, die Kompetenz, Informationen und Wissen einordnen zu können, müssen hinzutreten, gerade in einer Welt der fast unbeschränkt zugänglichen Information.
Kann aber Weisheit gelernt werden? Und wie kann Weisheit dazu verhelfen, den Zugang zum Wissen zu einer guten Lebenspraxis zu nutzen? Das sind die Leitfragen, die in den diversen Vorträgen aus unterschiedlichsten Fachrichtungen und Standpunkten aus einer Diskussion zugeführt wurden. Ausgehend von der grundlegenden These, dass Weisheit durchaus erlernbar ist, Weisheit verstanden als die integrative Möglichkeit des Menschen zu einer Zusammenschau aller Fakten einer konkreten Lebenssituation mitsamt des Erlernens eines Umganges mit Leid, Tod und Sterben.
Im Einzelnen beschäftigen sich die Vorträge mit so unterschiedlichen Zugehensweisen zum Thema wie die Frage, was Weisheit genau ist, wie der Mensch den Zugang zur Weisheit differenziert finden kann, wo wir als Menschen der Weisheit begegnen im Leben oder in der Kulturgeschichte. Fragen, die in letzter Konsequenz immer nur zur eigenen Reflektion anregen können, nicht aber zu einer endgültigen Beantwortung der Frage nach Wesen, Wirkung und Erlernbarkeit von Weisheit.
Die Stärke des Buches liegt besonders in der Vielseitigkeit der Betrachtungswinkel begründet. Besonders eindrucksvoll stellt sich hier bereits der erste, abgedruckte Vortrag dar, in dem Spuren der Weisheit in den Fokus gelegt werden. Ein interessanter Ansatz, aus den Spuren auch das „Spüren“ abzuleiten und so die Suche nach Weisheit sowohl im Außen als auch im Innen des Menschen anzusiedeln. Weisheit muss auch als solche erkannt und akzeptiert, „gespürt“ werden, wenn überhaupt eine Wirkung von ihr ausgehen soll. So stellt der erste Vortrag die Chance des Menschen in den Raum, eine „innere Stimme“ zu hören und dieser tatsächlich auch vertrauen zu lernen.
Aber auch das Plädoyer von Niklaus Brantschen für einen meditativen Lebensstil ist höchst lesenswert, durchaus auch auf dem Rücken der Diskussion über „Downshifting“, die vor nicht all zu langer Zeit öffentlich breit angelegt auftauchte und einiges an Weisheit bereits in sich trug. Ganz praktisch geht es zu, wenn Harm Paschers die eigentlichen und konstruktiven Qualitäten des Alterswissens ebenso aufzeigt, wie er mögliche pädagogischer Zugänge benennt. Ein wenig provokativ, aber durchaus der Realität entsprechend stellt er diese Altersweisheit der verbreiteten, oft fast sturen, „Besserwisserei“ des alternden Menschen gegenüber und definiert in nachvollziehbarer Weise, was „erwachsenes Wissen“ ausmacht und wie unverzichtbar ein solches Wissen letztlich ist.
Alle 10 Vorträge behandeln so jeweils ganz andere Ansätze und Denkrichtungen, von der Innerlichkeit hin zur medialen Weisheit, von der Weisheit konkret im Lebensvollzug bis hin zu grundlegenden und abstrahierenden Gedanken zur Freiheit des Menschen.
Sprachlich ist den Inhalten nicht immer einfach bei zu kommen, Gedanklich wird hier auf hohem Niveau vorgetragen. Das Einlesen aber lohnt sich, denn vielfach kommt die Verbindung von Wissen und Weisheit ganz konkret und umsetzbar in den Blick, zumindest eröffnen die Vorträge vielfache Möglichkeiten, für die eigene Person und das eigene Leben zu reflektieren. Der Schwerpunkt liegt allerdings erkennbar auf dem Begriff und der Beschreibung von Weisheit, auch wenn an ausgewählten Orten wie den Einlassungen zum Alterswissen das Binnenverhältnis Wissen und Weisheit stärker in den Blick rückt.
Rezensent: Michael Lehmann-Pape