Veronika Fischer und Monika Springer (Hrsg.): Handbuch Migration und Familie.

hinzugefügt: 16-03-2011
Grundlagen für die Soziale Arbeit mit Familien. Wochenschau Verlag, Reihe Politik und Bildung – Band 59. Schwalbach/Ts. 2011. 49,80 Euro.

ISBN 978-3-89974649-5


Familien mit Migrationshintergrund standen bisher kaum im Fokus von wissenschaftlichen Analysen. Das Handbuch Migration und Familie bietet einen umfangreichen Überblick zu einer Vielfalt von Themenfeldern, die Migration und Familie betreffen. Kurze Aufsätze liefern im Handbuch einen Einblick über historische, rechtliche, ökonomische, soziale und gesundheitliche Hintergründe. Somit ist es sowohl für Studierende als auch für in der Praxis Tätige als Nachschlagewerk geeignet.

Obwohl die BRD real seit mehr als 50 Jahren ein Einwanderungsland ist, wurde dies erst vor 10 Jahren von regierenden Politiker_innen bejaht. Die Bedürfnisse von Menschen mit Migrationshintergrund standen vor dem Jahr 2000 kaum im Fokus politischer Betrachtung und Analyse. Dies hatte und hat Folgen sowohl für die Lebenssituation von Migrant_innen als auch für das gesamtgesellschaftliche Zusammenleben. Die Autor_innen betrachten dieses Zusammenspiel und beschreiben das Erfordernis von neuen Herangehensweisen bei gleichzeitig stattfindendem demographischem Wandel.

Das Handbuch beinhaltet einen theoretischen sowie einen praxisgeleiteten Teil, welche insgesamt 36 Beiträge umfassen und in je 3 Kapitel aufgeteilt sind:

A. Theoretische Grundlagen zu den Themen Migration und Familie
I. Familien im Migrationsprozess
II. Lebenslagen
III. Phasen und Lebensformen

B. Migration und Soziale Arbeit mit Familien
IV. Qualitätsanforderungen an die Familienarbeit
V. Sozialpädagogische Methoden und Arbeitsfelder
VI. Konzepte der Eltern- und Familienbildung


Auszüge aus dem Inhalt

Das erste Kapitel des theoretisch-konzeptionellen Abschnitts („Familien im Migrationsprozess“) schafft einen Rahmen für die weitere Auseinandersetzung. Gängige Begriffe, z.B. „Integration“, werden in diesem Kapitel erklärt und hinterfragt (Dieter Filsinger). Integration wird von einzelnen Autor_innen problematisiert und als „umstritten“ oder kooperative Aufgabe angesprochen. Da der von den Autor_innen benutzte Begriff der „Integration“ von der Bedeutung in der öffentlichen Diskussion abweicht, wäre jedoch eine verstärkte Problematisierung des Diskurses hilfreich und notwendig gewesen. Woran wird „Integration“ gemessen? So gilt es auch die üblichen Konzepte – von Raum, Familie usw. – in Zeiten von transnationaler Migration und Globalisierung stets zu überdenken, wie Ludger Pries empfiehlt. Es wird weiterhin eine Einführung in die Zuwanderungsgeschichte und allgemeine Lebenssituation von Familien mit Migrationshintergrund gegeben und aufgezeigt, dass es sich um eine stark heterogene Gruppe mit vielfältigen Lebensformen handelt (Karl-Heinz Meier-Braun). Hierbei kann es sich um Heterogenität innerhalb der Herkunftsgruppe handeln, generationsübergreifende Unterschiede, Alter, Bildungsniveau, Rechtsstatus usw. Dies alles muss bei einer interkulturellen Öffnung mitbedacht werden. Es ergeben sich zudem im Zusammenspiel mit (dem Querschnittsbereich) Migrationspolitik stets weitere Aufgaben wie Familienpolitik, Gesundheitspolitik etc. Beispielsweise nimmt die Einwanderung aufgrund der derzeitigen Gesetzgebung ab, was jedoch den demographischen Wandel verstärkt, wie Wöllert/Klingholz/Karsch betonen.

Im zweiten Kapitel steht der Alltag von Menschen mit Migrationshintergrund im Mittelpunkt. Es werden deren Milieus (Tanja Merkle), rechtlicher Status (Debler/Gregor), ökonomische Situation (Wolfgang Seifert) sowie bürgerschaftliches Engagement und Selbstorganisation (Susanne Huth) beleuchtet. Weitere Beiträge behandeln die Bildungssituation von Kindern und Jugendlichen (Ursula Neumann), Fremd- und Selbstgefährdungspotenziale (Dirk Baier), Religionsausübung (Wolf-Dieter Just) und Gesundheit (Korporal/Dangel). Außerdem werden die Wohnsituation (Norbert Gerstring) und Medien (Karl-Heinz Meier-Braun) behandelt. Ein Schlüssel zur heutigen Lebenssituation von Personen mit Migrationshintergrund sei demnach der verbreitet niedrige Qualifikationsgrad oder die Nichtanerkennung von Abschlüssen. Die Autor_innen bezeichnen dies als eine Folge einer Migrationspolitik, welche die Bildung von Zuwanderern kaum förderte. Norbert Gerstring sieht in der Segregation eine Wohn- und Lebensrealität, die durchaus positive Auswirkungen und somit das Potenzial für eine Erneuerung der Maßstäbe für „Integration“ hat. Die Religionsausübung wird als wichtiger Faktor für die „Integration“ betont: Nur wer sich rundum ernst genommen fühle, wäre zur „Integration“ bereit. Daher sei es u.a. Aufgabe der Sozialen Arbeit, eine differenzierte Wahrnehmung zu stärken und Vorurteile abzubauen. Das bürgerschaftliche Engagement biete gerade für Familien mit Migrationshintergrund wichtige Partizipationsmöglichkeiten, bspw. durch Zugänge zu Gesundheitsförderung und Bildung.

Im dritten Kapitel (Phasen und Lebensformen) beschäftigen sich die Beiträge mit dem Thema Heirat (Gaby Straßburger), Elternschaft (Manuela Westphal), Sozialisation und Erziehung (Birgit Leyendecker), Eltern-Kind-Beziehung (Haci-Halil Uslucan) und Mädchen bzw. jungen Frauen (Boos-Nünning/Karakoşoğlu). Des Weiteren thematisieren die Autor_innen Jungen in Migrantenfamilien (Badawia/de Paz Martínez), ältere Familienmitglieder (Helen Baykara-Krumme) sowie familiäre Netzwerke (Andrea Janssen). In diesem Kapitel werden Forschungslücken festgestellt, dies seien bspw. die Entwicklung von migrierenden Männern zu Vätern sowie familiäre (transnationale) Netzwerke als soziales Kapital (Pries, Leyendecker). Andrea Janssen untersucht die Bedeutung dieser Beziehungen für die Migrationsentscheidung und für die „Integration“. Es Beitrag setzt sich kritisch mit Ethnozentrismus in der Erziehung auseinander – die Anwendung von „europäischen Standards“ sei nicht verhältnismäßig, da sich Erziehungsziele und Familienstrukturen anders gestalteten. Die Lage von Jungen mit Migrationshintergrund wird als prekär dargestellt – „risikoreich und mit störanfälligen Beteiligungschancen“. Sie seien zudem durch ihr öffentliches Bild stigmatisiert, weshalb eine ständige Reflexion im professionellen Handeln nötig sei, um selbst keiner Stigmatisierung anheim zu fallen.

Das vierte Kapitel „Qualitätsanforderungen an die Familienarbeit“ thematisiert die Interkulturelle Orientierung und Diversity-Ansätze für Organisationen, für die Familienarbeit und für Kommunen. Der erste Aufsatz zeigt die Entwicklung der Interkulturellen Orientierung von der Forderung nach „Interkultureller Kompetenz“ hin zur Umsetzung von konkreten, aktuellen Ansätzen der Interkulturellen Orientierung (Hubertus Schröer). Konkretisiert wird dieser Beitrag durch die folgenden Aufsätze im vierten Kapitel sowie durch die Praxisbeispiele im fünften. Stefan Gaitanides zeigt danach einerseits Barrieren zwischen Sozialem Dienst und Migrant_innen auf und andererseits Möglichkeiten, um diese Barrieren abzubauen. Veronika Fischer geht vertieft auf die Interkulturelle Kompetenz im Zusammenhang mit Sozialer Arbeit im Migrationskontext ein. Michael Krummacher widmet sich schließlich Integrationskonzepten von Kommunen.

Die Beiträge des fünften Kapitels behandeln sozialpädagogische Methoden und Arbeitsfelder. Zu den hier behandelten gehören die Sozialpädagogische Familienhilfe (Ioanna Zacharaki), Erziehungshilfen mit Familien (Talibe Süzen), Erziehungs-, Ehe- und Familienberatung (Peter Bünder) und die videounterstützte Beratung (Sirringhaus-Bünder/Reitmayer). Außerdem beschäftigen sich die Aufsätze mit der Eltern- und Familienbildung (Veronika Fischer), Familienzentren (Monika Springer), Partizipation in der Schule (Mechthild Gomolla) sowie Selbsthilfepotenzialen und Vernetzung (Fischer/Krumpholz/Schmitz). Bei der Zielgruppe der Sozialpädagogischen Familienhilfe handelt es sich um Familien mit vielfältigen Problemlagen. Hier ist die Reflexionsfähigkeit für den Migrationskontext („Interkulturelle Kompetenz“) notwendig, um im interkulturellen Kontext handeln zu können. Talibe Süzen erläutert bezüglich der Hilfen zur Erziehung im Sozialen Dienst, dass eine interkulturelle Öffnung sowohl einer „Bottom up“- als auch einer „Top down“-Strategie bedürfe, d.h. sowohl auf Mitarbeiter_innen- als auch auf Führungsebene. In der Eltern- und Familienbildung habe sich gezeigt, dass diejenigen Ansätze günstig seien, welche einen mehrdimensionalen Zugang (Methoden, Orte, Akteure) verfolgen, um Familien unterschiedlicher Herkunft erreichen zu können.

Schließlich widmet sich das letzte Kapitel „Konzepte der Eltern- und Familienbildung“ Beispielen aus der Praxis. Monika Springer erläutert hier zunächst konkrete Beispiele aus Elterntrainings und Familienbildung und geht dann auf die Parallelisierung von Sprachförderung und Familienbildung ein. Die Vorstellung der Praxisbeispiele erfolgt tabellarisch nach einem Muster, was einen Vergleich ermöglichen soll. Dargestellt werden Hausbesuchsprogramme und externe Trainings wie bspw. Opstapje; Starke Eltern – Starke Kinder ®; Mama lernt Deutsch, Papa auch. Die Programme sollen die Erziehungsfähigkeit der Eltern stärken und/oder Sprachkenntnisse vermitteln. Ein Stichwortverzeichnis schließt den Band ab.

Das Handbuch bietet einen weit reichenden Einblick in die Fachdiskussion um Migration und Familie. Wichtige Fachbegriffe werden eingeführt und erklärt. Die Herausgeberinnen stören sich eingangs daran, dass Migrationshintergrund oft mit dem Stereotyp „Belastung“ und einhergehenden Risiken für die Biographie verbunden würde. In dem Sinne ist ihr Handbuch auch ein Beitrag dazu, dass sozialpädagogisch Tätige den Blick auf persönliche Fähigkeiten und Chancen ausweiten („Ressourcenorientierung“). Dieses Handbuch liefert somit Plädoyers zum Umdeuten und zum Hinterfragen des eigenen Handelns.

Rezension von:

Karolin Behlert
Sozialarbeiterin (B.A.), Studium an der Alice-Salomon-Hochschule Berlin, tätig bei IMA e.V., einem freien Träger der Jugendhilfe, und bei der Wanderausstellung „Residenzpflicht – Invisible Borders“