Thomas Geisen und Katrin Kraus (Hrsg.) - Sozialstaat in Europa

hinzugefügt: 25-02-2002
Geschichte - Entwicklung - Perspektiven. Opladen: Westdeutscher Verlag, 2001 (309 S.)
ISBN 3-531-13689-5

Im Rahmen internationaler Vergleiche ist häufig die Rede von einem "europäischen Sozialmodell", das sich signifikant von Modellen sozialer Sicherung in anderen Teilen der Welt und insbesondere in den USA unterscheide. Was aus großer Entfernung wie eine Ansammlung ähnlicher Sozialmodelle aussehen mag, stellt sich bei näherem Hinsehen jedoch als enorme sozialpolitische Vielfalt heraus: "Trotz der zugrunde liegenden gemeinsamen (ökonomischen, politischen und mentalen, T.H.) Paradigmen haben sich die europäischen Sozialstaaten im Laufe ihrer sozialgeschichtlichen Entstehung sehr unterschiedlich entwickelt und es sind jetzt deutlich unterscheidbare Typologien entstanden" (S. 22). Ziel des von Geisen und Kraus herausgegebenen Bandes "Sozialstaat in Europa" ist es, einen Überblick über die verschiedenen Formen von Sozialstaatlichkeit in Europa zu geben. Dabei geht es den Autoren zwar auch um einen Vergleich der Modelle, im Vordergrund steht aber die Dokumentation dessen, "was in dem einzelnen Land unter sozialer Sicherung verstanden wird, wie sich diese Differenzen historisch und politisch entwickelt haben und welche Auswirkungen sie auf die staatlichen Aktivitäten zur sozialen Sicherung haben" (S. 10).
Eingeleitet wird der Band durch einen Beitrag, der sich (leider einseitig) historisch-marxistisch der "sozialen Frage" und der als Antwort auf letztere in Europa entstandenen sozialen Sicherungssysteme widmet. Es folgen zahlreiche Fallstudien europäischer Sozialstaaten. Darunter befinden sich mit Deutschland, Großbritannien, Schweden, Frankreich und Italien zunächst einmal Beispiele, die aufgrund ihrer großen Tradition und Bedeutung in den meisten einschlägigen Veröffentlichungen diskutiert werden. Darüber hinaus werden aber auch kleinere Sozialstaaten wie das "Poldermodell" der Niederlande und das kommunitaristisch geprägte Modell der Schweiz berücksichtigt. Beide Länder sind von besonderem Interesse, da sie in der deutschen Diskussion häufig als sozialpolitische Alternativen gehandelt werden. Die Autoren sehen gleichwohl die Gefahren, die hinter einem undifferenzierten Übertragen der Regelungen anderer Länder lauern: "Auf Grund des 'traditionellen' Charakters des Sozialstaats, der sowohl in der politischen Kultur als auch mental wie strukturell abgesichert sein muss, würde ein solcher Anspruch an der Realität sozialer Sicherung vorbeigehen" (S. 19). Schließlich werden mit dem Transformationsbeispiel Polen und der Türkei zwei fast schon als "exotisch" zu bezeichnende, da selten thematisierte Sozialstaaten behandelt. Abgeschlossen wird der Band durch zwei Beiträge, die sich explizit mit sozialpolitischen Entwicklungen auf europäischer Ebene beschäftigen. Während der erste zum Umgang mit unbezahlter Pflegearbeit in Europa eher deplaziert im Gesamtkontext wirkt, widmet sich der zweite der wichtigen Frage der Einflüsse der Europäischen Union auf nationale Sozialpolitiken.
Insgesamt bietet der Band von Geisen und Kraus interessante und zum Teil auch neue Einblicke in die Thematik. Als Manko erweist sich letztendlich der Verzicht der Autoren auf einen systematischen Vergleich der berücksichtigten Sozialmodelle, der eine sinnvolle theoretische Rahmung bedeutet hätte. Nur ansatzweise wird unter Bezug auf die Unterscheidung zwischen Beveridge- (umfassende, aber minimale Grundsicherung für alle) und Bismarck-Modellen (Sozialversicherungsprinzip) ein solcher Versuch unternommen. Allerdings hat die vergleichende Forschung gezeigt, dass der angesprochene Dualismus zu grob ist, um der sozialpolitischen Vielfalt in Europa gerecht zu werden und differenziertere Vorschläge entwickelt (vgl. z.B. die Wohlfahrtsregimetypologie von Esping-Andersen).


Erschienen im VS_Verlag.

Rezension von Thorsten Heien