Dieter Irblich / Burkhard Stahl - Menschen mit geistiger Behinderung

hinzugefügt: 15-09-2003
Psychologische Grundlagen, Konzepte und Tätigkeitsfelder. 1. Auflage 2003 690 Seiten Preis: 69,95 EUR
ISBN 3-8017-1467-5

Menschen mit geistiger Behinderung stellten innerhalb der Entwicklung der Psychologie viele Jahrzehnte eine Randgruppe dar, die nicht wert und interessant genug war, erforscht zu werden. Das vorliegende Buch macht es sich zur Aufgabe, diesen Zustand zu erhellen und für das Einbeziehen psychologischer Erkenntnisse auf o.g. Personenkreis einzutreten. Wie können nun diese Ziele wissenschaftlich und praxisorientiert erreicht werden - könnte die zentrale Frage der Autoren lauten?

Ausgehend von der interdisziplinären Zusammenarbeit verschiedener Berufsgruppen im Feld der Behindertenhilfe wird versucht, gemeinsame Berührungspunkte aufzugreifen, diese vor dem Hintergrund sich verschärfender ethischer und politischer Verhältnisse zu bündeln, um sie schließlich für Integrationsbemühungen und Planung von Förderprozessen nutzbar zu machen. Das hierbei die Wissenschaft vom Verhalten und Erleben des Menschen manchmal wenig beiträgt bzw. divergiert zeigt sich schon bei der Terminologie und Verwendung des Begriffes der "geistigen Behinderung" (s. ICD-10 o. DSM IV). Eine einheitliche Klassifikation (Diagnostik) scheint jedoch aus schulpädagogischer und sozialrechtlicher Sicht unumgänglich. Die Kritik richtet sich hier i.e.L. gegen die Auffassung der geistigen Behinderung als psychische Störung oder Krankheit, wie sie weiterhin in der Psychiatrie vertreten wird.

Themenschwerpunkt im 2.Teil bilden die psychologischen Grundlagen der Entstehung und Entwicklung geistiger Behinderungen. Als vorrangig und wesentlich werden entwicklungspsychologische Aspekte zur Beschreibung von Besonderheiten in Entwicklungsphasen herangezogen (Theorien n. Piaget, Freud, Stern u.a.). Das Wissen um kognitive Prozesse, zu finden in der Lernpsychologie, erweitert die Möglichkeiten einer Förderplanung, resümieren die Herausgeber und ergänzen die ausführlicheren ersten Kapitel mit kommunikationstheoretischen o.a. sozialpsychologischen Erkenntnissen; aktuelle Trends und Forschungsschwerpunkte aus der Motivations- und Emotionspsychologie sind dabei berücksichtigt.

Mit den praktischen Tätigkeiten von psychologisch geschulten Fachkräften befassen sich die Autoren im 3. und letzten großen Teil. Wichtig erscheinen mir darin die Präferenzen, z.B. für Angehörigenarbeit, Förderplangestaltung oder psychotherapeutische Zugänge in der Begegnung mit geistig behinderten Menschen.

An vielen Stellen des Buches findet man historische Informationen, übersichtlich zusammengefasst, die genauso treffend beschrieben sind, wie die eingefügten Fallbeispiele in den Kapiteln. Größtenteils fehlen aber leider die Entwicklungslinien (Sonderpädagogik, Psychologie, Institutionen) in der ehemaligen DDR.

Im Ausblick werden 11 Thesen zur Zukunft der psychologischen Forschung und Entwicklung im Bereich von "Geistiger Behinderung" aufgestellt. Unter ihnen zu finden sind die Forderung nach fachlicher Qualifizierung, die Intensivierung der Forschung oder die Bemühungen um Evaluation der eigenen Arbeit.

Festgehalten werden kann, dass den Herausgebern ein umfangreiches, auch an heil-, sonder- und sozialpädagogische Fachkräfte gerichtetes Fachbuch gelungen ist, dessen Kernaussage - geistige Behinderung als Variante menschlichen Daseins zu begreifen, im Mittelpunkt steht.


Erschienen im Hogrefe Verlag.

Rezension von Michael Horn