Michael Hüfner: Das Gemeinschaftsgefühl und die Paradoxität der Macht.

hinzugefügt: 28-04-2006
Individualpsychologische Impulse für kirchliche Handlungsfelder, Münster 2004, 195 S.
ISBN:3-8258-7711-6


Das Buch ist im LIT VERLAG als Band 9 der von Maria Kassel und Thomas Meurer herausgegebenen Reihe „Forum Theologie und Psychologie“ erschienen. Anliegen des Autors, der seit vielen Jahren als evangelischer Krankenhauspfarrer und individualpsychologischer Therapeut arbeitet, ist es, die bisher kaum erfolgte Rezeption der Gedankenwelt und des therapeutischen Ansatzes von Alfred Adler im Bereich von Theologie und Kirche voranzubringen.

Hat die individualpsychologische Konzeption Adlers (1870-1937) auch bei weitem nicht die Popularität der Psychoanalyse Sigmund Freuds (der Adler nach anfänglicher Sympathie schroff ablehnte) und der analytischen Psychologie Carl Gustav Jungs erreicht, so ist sie doch seit der Mitte des vorigen Jahrhunderts als eigenständige tiefenpsychologische Schule in der Literatur akzeptiert und gilt inzwischen als dritte „klassische“ Hauptströmung der modernen Tiefenpsychologie. Von ihr können, wie der Verfasser zeigt, wertvolle Impulse für die Theologie und vor allem für die Seelsorge der Kirche ausgehen. Es ist nicht nur der holistischer Ansatz der Individualpsychologie und ihr Menschenbild, das eine ganze Reihe von Parallelen zur biblischen Anthropologie aufweist, warum dem Autor eine Kontaktaufnahme von Theologie und Kirche zur Psychologie Adlers sinnvoll und wünschenswert erscheint, es ist vor allem auch die Affinität individualpsychologischer Schlüsselkategorien zu zentralen theologischen Topoi, gedacht ist zum Beispiel an Adlers Idee einer dem Menschen einwohnenden „schöpferischen Kraft“, an sein Insistieren auf der „Ermutigung“ als Königsweg der therapeutischen Intervention oder an seine Leitthese des in jedem Menschen angelegten und zur Realisierung drängenden „Gemeinschaftsgefühls“, die mit der christlichen Vorstellung von der „communio sanctorum“ korrespondiert

Nach einer Einleitung, in der er zunächst die Situation des Individuums in unserer gegenwärtigen „Gesellschaft des Machbarkeitswahns“ thematisiert und dann seine Vorgehensweise darlegt und begründet, setzt sich der Verfasser im ersten Teil seiner Arbeit kritisch mit der bisherigen „Rezeption der Individualpsychologie innerhalb von Theologie, Psychologie und Pädagogik“, auseinander (S. 17 ff.), die, vor allem seitens der Theologie bislang nur unzureichend und vielfach verzerrend erfolgte.

Der ausführliche zweite Hauptteil der Untersuchung dient der Wahrnehmung und Diskussion der „Anthropologie Alfred Adlers im Vergleich zu systematisch-theologischen und biblischen Fragestellungen“ (S. 47 ff.). In konzentrierter Darstellung werden hier entscheidende Positionen Adlers behandelt, nämlich: eben jene integrierende, persönliches wie gesellschaftliches Wachstum bewirkende „angeborene soziale Grunddisposition des Gemeinschaftsgefühls“; der mächtige Drang zur „Kompensation“ realer oder vermeintlicher Schwächen und zur „Überwindung der subjektiv empfundenen Minderwertigkeit“ sowie - als fundamentale Gefährdung des Selbstwerdungsprozesses und der Gemeinschaftsbildung - das neurotische „Streben nach Macht“. Im weiteren Verlauf dieses Hauptteils spürt der Autor Verbindungslinien zwischen Adlers Werk und der Theologie Paul Tillichs nach, um dann aus individualpsychologischer Perspektive das Hiobbuch, die „Lebensstiländerung des Paulus“ und die Frage, wie Jesus mit der Macht umging, zu behandeln.

Der dritte Teil des Buches bietet „Impulse für die Praxis“ (S. 107 ff.). Hier zeigt der Verfasser anhand der adlerianischen Schlüsselkategorien der „Wertschätzung“ und der „Ermutigung“ auf, in welcher Weise eine individualpsychologisch orientierte pastorale Praxis schöpferische und heilende Kräfte freisetzen kann - freilich nur, wenn die Funktionsträger der Kirche nicht der ihnen in besonderer Weise begegnenden Versuchung der Macht erliegen. Gerade weil es im Raum der Kirche um Fragen geht, die die Menschen im Innersten berühren, dort also, wo sie am verletzlichsten sind und sich gegen Manipulation am wenigsten wehren können, ist es notwendig auf den Umgang der Kirche mit der Macht ein besonderes „Adlerauge“ zu richten.

Neben konkreten Beispielen aus seiner individualpsychologisch orientierten seelsorgerlichen und homiletischen Praxis (unter anderem stellt er ein Ausbildungsprojekt für Ehrenamtliche MitarbeiterInnen in der Klinikseelsorge und zwei Predigten vor) dokumentiert der Autor im letzen Teil des Buches eine von ihm durchgeführte Umfrage über den „Stellenwert ethischer Entscheidungsfindung im Krankenhaus“ (S. 142 ff.), deren Ergebnisse schließlich zur Einrichtung eines Ethikomitees an der Klinik führten, in der er tätig ist.

Mit seiner Abhandlung leistet Michael Hüfner einen anerkennenswerten Brückenschlag von der kirchlichen Theoriebildung und Praxis zu einer zu Unrecht in den Hintergrund geratenen tiefenpsychologischen Konzeption, deren Grundanliegen sich in vielerlei Hinsicht mit leitenden Interessen der Kirche decken. Das Buch bietet eine knappe, aber prägnante Einführung in die Adlersche Psychologie und weckt Lust zu einer intensiveren Beschäftigung mit diesem eigenständigen Denker. Durch seinen, im kirchlichen Umfeld wenig vertrauten, individualpsychologischen Blickwinkel bietet Michael Hüfner vielerlei Anstöße zum Nachdenken und vielleicht auch zur Korrektur bereits eingefahrener Sicht- und Verfahrensweisen, vor allem auf dem Gebiet der Poimenik. Eine Seelsorge, die sich auf den „individualpsychologischen Fünfklang“ konzentriert, wie der Autor die „Essentials“ der Adlerschen Psychologie öfter bezeichnet (er bildet sich aus den Tönen Minderwertigkeitsgefühl, Kompensation, Mut, Gemeinschaftsgefühl und Macht und „bestimmt sozusagen die Tonart der jeweiligen Grundmelodie des Individuums, den Lebensstil“, S. 44) würde auf jeden Fall einen neuen und originellen Akkord in der seit Jahrzehnten weitgehend von gesprächspsychotherapeutischen und analytischen Harmonien geprägten kirchlichen Seelsorge intonieren.

Erschienen im LIT-Verlag

Rezension von Privatdozent Dr. Andreas v. Heyl,
Göppingen