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Heien, Dörthe "Helene Stöcker - Pionierin der sozialen Arbeit"
hinzugefügt: 11-10-2001

 
 
 
 

Kontakt zur Autorin:
Dörthe Heien
 
 
 
 

1. Kindheit
2. Jugend
3. Studienjahre
4. Die Neue Ethik
5. Engagement in der Frauenbewegung
6. Bund für Mutterschutz
7. Grenzen der Neuen Ethik im Privatleben von Helene Stöcker
8. Pazifistisches Engagement
9. Emigration
10. Helene Stöckers Bild in der Öffentlichkeit
11. Literaturverzeichnis
 

1. Kindheit
Hulda Caroline Emilie Helene Stöcker wurde am 13. November 1869 in Elberfeld geboren. Sie war das erste von acht Kindern ihrer Eltern Peter und Hulda Stöcker. Ihr Vater Peter (1839-1917 ) arbeitete in der in Elberfeld gut florierenden Textilbranche. Er hatte sich in der Jugend dem Willen der Familie gebeugt, und sich gegen seinen ursprünglichen Wunsch Missionar zu werden entschlossen, das Posamentiergeschäft des Vaters zu übernehmen. Helene Stöckers Mutter Hulda (1849-1921) stammte aus einer bäuerlichen Familie (vgl. Christl Wickert: "Helene Stöcker", Dietz, Bonn: 1991, S.14f). Der Alltag der Familie Stöcker wurde von einer strengen Religiosität der Eltern bestimmt. Die Familie war sehr aktiv in einer kalvinistischen Gemeinde in Wuppertal. Der Vater bestand darauf, daß alle Familienmitglieder an den regelmäßigen Bibellesungen morgens und abends teilnahmen (vgl. Petra Rantzsch: Helene Stöcker, Der Morgen, Berlin: 1984, S.17). Die Eltern legten im Sinne ihrer religiösen Überzeugung bei der Erziehung ihrer Kinder viel Wert auf Entsagung, Dienst und Selbstkontrolle. Petra Rantzsch spricht in ihrer Biographie über Helene Stöcker von einer "puritanischen Moralauffassung" der Eltern und einem "beinahe asketisch zu nennenden Lebensstil" (Rantzsch 1984: S.17) der Familie Stöcker. In der Tradition der Erweckungsbewegung, zu der auch die Wuppertaler Gemeinde gehörte, wurde Gott die absolute Souveränität zugeschrieben, und der Mensch hat die Aufgabe nach einem höheren Selbst zu suchen. Die Gewissheit der Unantastbarkeit dieser ethischen Grundsätze im Familienleben der Stöckers veranlaßt Christl Wickert in ihrer Biographie über Helene Stöcker zu der Aussage: "So ist auch Helene Stöckers späteres Streben nach der neuen Ethik zu sehen; ihre Distanz zu staatlicher Organisation und politischen Parteien, die ihre Arbeit prägte, hat sicher hier ihren Ursprung" (Wickert 1991: S.17). Helene Stöcker mußte als Erstgeborene früh im Haushalt helfen und sich um die jüngeren Geschwister kümmern. Zwei ihrer Geschwister starben im Kindesalter, so erreichten nur fünf Schwestern das Erwachsenenalter. In dem von ihr selbst verfaßten Lebenslauf schreibt Helene Stöcker: "Vielleicht hat die Tatsache, daß ich von früh auf mit den natürlichen Ereignissen, wie der Geburt von Kindern so nah bekannt wurde, mit dazu beigetragen, daß ich eine gewisse Prüderie niemals kennenlernte" (aus: Ariadne- Almanach des Archivs der Frauenbewegung, Heft 5, Juli 1986). Wickert, die als Quelle die nicht vollendeten Manuskripte der Autobiographie Helene Stöckers zur Verfügung hatte, schreibt, daß Helene Stöcker selbst sehr wenig über ihre Schwestern und allgemein über das Familienleben berichtet. Stöcker bezeichnet in ihren Erinnerungen die Ehe ihrer Eltern als glücklich und berichtet "von einem emotionalen Binnenraum zwischen Eltern und Kindern, wie er in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts noch nicht allgemein verbreitet war" (Wickert 1991: S.17). Die Beziehung zu ihrer Mutter empfand sie schwieriger als die zu ihrem Vater. Die Mutter war oft gereizt und mit den vielen Kindern überlastet. Den Vater hingegen sah sie ohne Kritik. Als Kind äußerte sie öfter den Wunsch später einen Ehemann, wie ihren Vater haben zu wollen (Wickert 1991: S.19).

2. Jugend
Der anfängliche Bildungsweg Helene Stöckers war typisch für das damalige Bildungsideal der bürgerlichen Frauenbewegung. Nach dem Besuch der Volksschule ging Helene Stöcker zur Höheren Mädchenschule. Der Direktor dieser Schule, Richard Schornstein, hatte eine sehr fortschrittliche Einstellung. Er verwirklichte erste Anfänge für die Gleichstellung der Geschlechter im Hinblick auf Bildungsmöglichkeiten. Als Ziel hatte er die Koedukation vor Augen, die heute unser Schulsystem bestimmt. Die Schule war wie eine Realschule oder ein Gymnasium für Jungen organisiert. Die Mädchen mußten nur eine Stunde Handarbeits- und Haushaltsunterricht pro Woche zusätzlich besuchen. Helene Stöcker war begeistert von der Schule. In der Freizeit las sie viel und fing an Gedichte zu schreiben, diese hatten oft ihre Beziehung zu ihrer besten Freundin Addi Voigt zum Thema. Mit Addi Voigt diskutierte sie über literarische Werke, z.B. Goethes "Faust" oder Gottfried Kellers "Romeo und Julia auf dem Dorfe", die zur Grundlage ihrer weiteren geistigen Entwicklung wurden. Tief beeindruckt war sie auch von der Lektüre August Bebels "Die Frau und der Sozialismus", in der ihr "erstmals inzwischen selbstverständliche Aussagen über die Entwicklung der Rolle der Frau in der bürgerlichen Gesellschaft" (Wickert 1991: S.23) begegnet sind. Petra Rantzsch geht in ihrer Biographie noch etwas weiter, indem sie schreibt, daß bei Helene Stöcker durch die Lektüre August Bebels und dem Interesse am Elberfelder Sozialistenkongresses bei dem Bebel angeklagt wurde, nicht nur ihr Interesse an der Gleichstellung der Geschlechter, sondern in ihr ein "Gefühl der Verbundenheit mit dem Schicksal der einfachen Menschen, insbesondere der Arbeiter" (Rantzsch 1984: S.21), geweckt wurde. Die meisten Biographen Stöckers berichten aber, daß die Frauenfrage im Zentrum des Interesses von Helene Stöcker stand, diese schloß die Probleme der Arbeiterinnen zum großen Teil mit ein. Mit 21 Jahren kam Helene Stöcker zum ersten Mal mit der Philosophie Friedrich Nietzsches in Kontakt, die ihre späteren Gedanken zur neuen Ethik stark beeinflussen sollten. Das Wesentliche, das sie aus seinen Werken gezogen hat, sollte für sie zu einem Grundsatz in ihrem weiteren Leben werden, nämlich "die Unverantwortlichkeit des Menschen für sein Wesen und Sein", was für sie soviel bedeutete, daß diese Überlegungen "zu einer großen Zurückhaltung im Urteil über die Menschen, weil man sich ja immer gegenwärtig halten muß, daß alles Gute an einem Menschen nicht sein Verdienst, sondern sein Glück ist und das Böse sein Unglück" (Wickert 1991: S.23), führen muß.

3. Studienjahre
1892 verläßt Helene Stöcker das Elternhaus und zieht nach Berlin, um dort das Lehrerinnenseminar für höhere und mittlere Mädchenschulen zu besuchen. Fast drei Jahre hat sie seit ihrem Abschluß an der Städtischen Höheren Töchterschule in Elberfeld verbracht. Die Mutter brauchte ihre Hilfe im Haushalt und bei der Betreuung der jüngeren Geschwister, außerdem wollte der Vater seine älteste Tochter noch nicht in eine Großstadt wie Berlin ziehen lassen, weil er um ihr Seelenheil fürchtete. In dieser Zeit knüpfte sie aber schon auf Kurzbesuchen in Berlin Kontakt zu bedeutenden Frauenrechtlerinnen, wie Käte Schirmacher und Minna Cauer, für deren Zeitung "Die Frauenbewegung" sie Rezensionen schrieb (vgl. Wickert 1991: S.23). Am 2. Januar 1892 erfüllte sich ihr sehnlichster Wunsch, und sie zog nach Berlin. Helene Stöcker schreibt in ihrem Lebenslauf, daß sie sich nur mit Hilfe ihrer Mutter gegen den Willen des Vaters durchsetzen konnte (vgl. Ariadne, Juli 86, S.18). Diesen Umzug empfand Helene Stöcker als Befreiung aus der kleinbürgerlichen Enge ihres Elternhauses. Petra Rantzsch zitiert Helene Stöcker, die zu einem späteren Zeitpunkt, ihre eigene Person nach dem Auszug aus dem Elternhaus folgendermaßen charakterisierte "(eine junge Frau,) die hinausgeht aus dem schützenden Vaterhaus, um sich die pekuniäre Unabhängigkeit zu erringen - die erste Vorbedingung zu jeder Art von Freiheit" (Rantzsch 1984: S.27). 1892 begann Helene Stöckers Engagement in der bürgerlichen Friedensbewegung. Nach der Begegnung mit Bertha von Suttner, die 1889 den Aufsehen erregenden Roman "Die Waffen nieder" veröffentlicht hatte, und eine Vorkämpferin in der bürgerlichen Friedensbewegung gegen die Aufrüstung der europäischen Staaten und der drohenden Kriegsgefahr war, verstärkte sich Helene Stöckers pazifistische Überzeugung. Sie trat im November 1892 der neu gegründeten Deutschen Friedensgesellschaft bei (vgl. Rantzsch 1984: S.31). Ende des 19.Jahrhunderts war Berlin als Hauptstadt des deutschen Kaiserreiches zu einer pulsierenden Metropole auch im kulturellen Bereich aufgestiegen. Helene Stöcker genoß die abendlichen Theaterveranstaltungen und Konzertbesuche. Beeindruckt war sie von Gerhart Hauptmanns ambitionierten Bühnenwerk "Die Weber" und von Autorinnen, wie Gabriele Reuter, die sich in ihren Romanen gegen die patriarchalische Herrschaft des Mannes über die Frau richteten (vgl. Rantzsch 1984: S.30). 1893 legte Helene Stöcker das Lehrerinnenexamen für höhere und mittlere Mädchenschulen ab, anschließend besuchte sie den ersten Gymnasialkurs für Frauen (1894-1896), der von Helene Lange ins Leben gerufen wurde. Durch diesen Kurs bekam sie die Zugangsberechtigung zur Hochschule. Zu diesem Zeitpunkt waren Frauen noch nicht offiziell zum Studium an den Universitäten zugelassen. Sie mußten vor Beginn der Veranstaltungen den jeweiligen Professor um Erlaubnis bitten, um als Gasthörerinnen an seinen Seminaren teilzunehmen. Helene Stöcker besuchte Veranstaltungen in Deutscher Literaturgeschichte, Nationalökonomie und Philosophie an der Berliner Friedrich-Wilhelm-Universität. Obwohl sie sich als eine der ersten deutschen Studentinnen gegen viele Vorurteile wehren mußte, hatten diese Jahre eine "zentrale Bedeutung sowohl in persönlicher als auch in geistiger Hinsicht" (Wickert 1991: S.27). Helene Stöcker engagierte sich in mehren Organisationen für das Frauenstudium.

  • 1894 war sie Gründungsmitglied einer Kommission zum Aufbau einer Bibliothek zur Frauenfrage (die später von der Stadt Berlin übernommen wurde).
  • 1896 gründete sie mit einigen Kommilitoninnen den Verein Studierender Frauen, der Vorträge organisierte an denen auch Kommilitonen teilnehmen durften. Durch diese Veranstaltungen sollte das Verhältnis zwischen weiblichen und männlichen StudentInnen verbessert und Vorurteile abgebaut werden. Außerdem setzte sich der Verein für die Forderung der Einheitsanrede "Frau" und das Unterlassen der Anrede "Fräulein" für unverheiratete Frauen ein.
  • auch nach Beendigung ihres Studiums unternahm Helene Stöcker noch Vortragsreisen für den Verein Frauenbildung - Frauenstudium. Dieser Verein setzte sich für die Anpassung der Mädchenschulen an die Gymnasien der Jungen und für die Zulassung der Frauen zum Hochschulstudium ein (vgl. Wickert 1991: S.28).
Nicht alle Professoren an der Berliner Universität hatten Vorurteile gegenüber den intellektuellen Fähigkeiten der Frauen. Mit Begeisterung nahm Helene Stöcker 1897 das Angebot des Philosophen Wilhelm Dilthey an, ihm bei seiner Arbeit zur Schleiermacher- Biographie zu helfen. Während ihrer Studienjahre beschäftigte sich Helene Stöcker zum großen Teil mit Abhandlungen über die Romantik. Anette Herlitzius begründet Helene Stöckers Interesse an der Romantik in ihrem Buch "Frauenbefreiung und Rassenideologie" damit, daß viele Frauen des Bildungsbürgertums, zu dem sie auch Helene Stöcker zählt, von der Romantikbewegung beeinflußt waren. "Die romantische Dichtung, die der Auflehnung der Jugend gegen gesellschaftliche Mißstände und sittliche Konventionen um die Jahrhundertwende Ausdruck gab, die sich durch ihren durchgängigen Gefühlston und die Darstellung turbulenter, mitreißender "Herzensangelegenheiten" gegen den Rationalismus der Zeit wendete, war für die schlecht gebildeten Frauen oft die einzige Lektüre, die ihnen zugänglich war und die sie eher mitfühlen als verstehen konnten" (Herlitzius 1995: S.126f). Sie räumt aber ein, daß sich Helene Stöcker in ihrem Studium wissenschaftlich mit der Romantik auseinandergesetzt hat. Ein großer Verdienst der Romantikbewegung war es, daß die Frauen an Fragen der Frauenemanzipation herangeführt wurden, und die Stellung der Frau in der Ehe und Liebe diskutiert wurde. "Eine geänderte Bewertung des Menschen, die Betonung seiner Einmaligkeit und Individualität brachte eine Revision der Leitbilder für beide Geschlechter hervor, wonach Männer und Frauen durch Bildung und Liebe ihre Persönlichkeit entwickeln sollten" (Herlitzius 1995: S.127). Diese Begleiterscheinungen der Romantikbewegung begrüßte Helene Stöcker. Die Romantik sollte auch Thema von Helene Stöckers Dissertation werden. Da der zuständige Professor an der Berliner Universität keine weiblichen Studentinnen annahm, mußte sie sich für einen Universitätswechsel entschließen. Zuvor hatte sie 1897 Alexander Tille (Professor an der Glasgower Universität) getroffen und sich in ihn verliebt. Aus diesem Grund folgte sie Tille für ein Semester 1898/1899 an die Universität Glasgow. Früh erkannte sie, daß die Beziehung zu Tille sehr problematisch verlaufen würde und trennte sich nach diesen einem Semester wieder von ihm. Sie ging 1900 an die Universität in Bern um endlich ihr Promotionsvorhaben in Angriff zu nehmen. Die folgenden Jahre vertiefte sie sich in ihr Promotionsthema "Der Wandel der Kunstanschauung im 18. Jahrhundert von Winckelmann bis Wackenroder", auch um über die schmerzliche Trennung von Alexander Tille hinweg zu kommen. Als erste deutsche Frau promovierte Helene Stöcker 1901 zur Dr. Phil. (vgl. Wickert 1991: S.36f). Nach ihrem Promotionsabschluß in Bern zog Helene Stöcker wieder nach Berlin. Bis 1904/05 lehrte sie dort an der Lessing- Hochschule mit den Schwerpunkten Deutsche Romantik und die Philosophie Nietzsches. Christl Wickert schreibt, daß Helene Stöcker als exotisch galt und zitiert Stöckers Aussage über diese Zeit "...(weil) ein weibliches Wesen, das den philosophischen Doktorgrad erworben hatte, noch etwas Seltenes war. Die Menschen begegneten mir mit Interesse und Freundlichkeit. Wenn ich in manchen Punkten "radikale" Anschauungen hatte, so sah man das wohlwollend als einen Ausfluß meines jugendlichen Enthusiasmus an" (Wickert 1991: S.46f). Eine finanzielle Unabhängigkeit erreichte Helene Stöcker als freie Referentin und Schriftstellerin. Die Einnahmen waren zwar nicht sehr hoch, aber sie war zufrieden, da sie an Themen arbeiten konnte, die ihr wirklich Freude bereiteten (vgl.: Wickert 1991: S.47). Die Erziehung in ihrem Elternhaus hatte dazu geführt, das sie sich auch als Erwachsene nichts aus materiellen Luxus machte.

4. Die Neue Ethik
Helene Stöcker wurde Anfang des 20. Jahrhunderts durch die Propagandierung ihrer Vorstellungen einer neuen Ethik in der Öffentlichkeit bekannt. Sie hat nie ein zusammenhängendes Programm vorgestellt, das sie als ihre Neue Ethik bezeichnete. Biographen versuchen aus einzelnen Vorträgen und aus dem von Helene Stöcker 1922 veröffentlichten Roman "Liebe" die Grundzüge der Neuen Ethik zusammenzustellen. "Die Neue Ethik verstand sich als ein Programm zur Erneuerung und Vertiefung der Ethik, für die Suche nach immer höheren Formen der Sittlichkeit, die das Handeln der Menschen den jeweils neuesten Erkenntnissen anpassen, ihre geistige Unabhängigkeit fördern, die Kraft und Lebensfreude gesunder und starker Menschen erhöhen und ihre Anlagen umfassend entwickeln wollte. Und sie war nicht zuletzt der Versuch, die Werte von Freiheit, Aufklärung und Toleranz, die Helene Stöcker in ihrem Studium kennengelernt hatte, auch für Frauen geltend zu machen" (Herlitzius 1995: S.135). Für Stöcker war die Emanzipation beider Geschlechter Voraussetzung., damit war nicht nur die gesellschaftliche und politische Emanzipation, sondern auch die Emanzipation im erotischen und sexuellen Bereich gerade für das weibliche Geschlecht, gemeint. Beeinflußt bei den Gedanken zur Neuen Ethik wurde Helene Stöcker schon durch literarische Studien in ihrer Jugend- und Studienzeit. Aus den Werken Friedrich Nietzsches übernimmt sie weitgehend die Vorstellung von der Loslösung vom Autoritätsglauben. Sie will die Loslösung von der allgemeinen Überzeugung den Mann als das Absolute zu sehen (Nietzsche stellte die Absolutheit von Gott in Frage). Eine weitere Übereinstimmung mit Nietzsche sieht Helene Stöcker darin, daß der Mensch im Leben neben Freude und Glück auch Leid akzeptieren muß. Nur durch diese Fähigkeit sieht sie ihr angestrebtes Ideal, nämlich eine vollkommene Liebe, bestimmt von Erotik und Altruismus, erreichbar. Weitere Einflüsse bei der Entwicklung einer Neuen Ethik erhielt Helene Stöcker durch die Beschäftigung mit den Ausführungen Sigmund Freuds zur Psychoanalyse, durch ihre eigenen Studien zur Romantik und durch das Interesse an der Sozialistenbewegung (August Bebel). Die Möglichkeit der Durchsetzung ihrer Ideale sah sie in der Sozialdemokratie. Ihr Glaube an den Sozialismus ging aber nie soweit, daß sie sich einer Partei anschloß. Ein Grundgedanke der Neuen Ethik war das Selbstbestimmungsrecht der Frau über ihren Körper und ihre Sexualität. Helene Stöcker prangerte die vorherrschende Doppelmoral im wilhelminischen Kaiserreich an, die nur dem Mann alle Freiheiten zubilligte. Sie wollte erreichen, daß Männer und Frauen gleichermaßen befähigt sind, "in gegenseitiger und eigenständiger Verantwortung für die Verbindung von Seele und Körper im sexuellen Leben zu leben. ...Erst wenn auch die Männer ehrlich auf ihre bestehenden Vorrechte verzichteten, Verantwortung und Verständnis für die Widersprüche im Leben von Frauen aufbrächten, welche diese ihnen selbstverständlich versuchten entgegenzubringen; erst wenn die Sexualität mit der Seele in Einklang gebracht ist, sei die Stufe der Neuen Ethik erreicht (Wickert 1991: S.62f).
 
 

5. Engagement in der Frauenbewegung
Um die Jahrhundertwende verstärkte sich Helene Stöckers Engagement in der bürgerlichen Frauenbewegung, nicht zuletzt aufgrund ihrer eigenen Erfahrungen während des Studiums mit Vorurteilen gegenüber studierenden Frauen. In erster Linie setzte sie sich für das Recht der Frau auf Bildung und Berufstätigkeit ein. Mit diesen Zielen konnte sie sich zunächst mit der bürgerlichen Frauenbewegung identifizieren (vgl. Rantzsch 1984: S.41). Die vielen verschiedenen regionalen Vereine dieser Bewegung schlossen sich 1894 unter dem Vorsitz von Auguste Schmidt in der Dachorganisation Bund deutscher Frauenvereine (BdF) zusammen. Nach kurzer Zeit bildete sich eine Kluft im Bdf zwischen der gemäßigten Führung und der radikalen Opposition um Minna Cauer (1897 Gründerin des Vereins Frauenwohl ) und Marie Stritt, die öffentlich harte politische Vorstöße forderten, denen sich die Gemäßigten nicht anschließen wollten. Helene Stöcker zählte sich zu dem radikalen Flügel in der bürgerlichen Frauenbewegung und identifizierte sich mit dessen Idealen. 1899 war sie Gründungsmitglied des Verbandes fortschrittlicher Frauenvereine, der sich als Opposition gegenüber der gemäßigten Führung ansah. Es wurde aber nie eine vollständige organisatorische Trennung vom BdF vollzogen. Die Unterschiede zwischen gemäßigten und radikalen Flügel lagen in den Konsequenzen, die aus bildungspolitischen, sozialen und rechtlichen Forderungen gezogen werden sollten und in der taktischen Vorgehensweise.

Forderungen des radikalen Flügels:

  • konsequent nach Gleichberechtigung
  • Frauenstimmrecht
  • Bekämpfung der Doppelmoral und ihre Folgen (z.B. Aufklärung, Einrichtung von Beratungsstellen, Hilfe für ledige Mütter)
  • gleiche Bildungschancen für Frauen
  • Offen für Zusammenarbeit mit der Arbeiterinnenbewegung
  • Möglichkeit der Vereinbarkeit von Berufstätigkeit und Mutterschaft
Forderungen des gemäßigten Flügels:
  • in ihren Vorgehensweisen sehr vorsichtig, immer mit dem Heranziehen des Arguments bestimmte Rechte der Frauen würden der Gemeinnützigkeit dienen.
  • hatten die Überzeugung, daß das Frauenstimmrecht automatisch anerkannt wird, sobald sich die Frau als tüchtig erwiesen hat. Das Wahlrecht der Frau wurde als Endziel der Emanzipation angesehen.
  • Gemäßigte stellten sich als Erzieherinnen über Arbeiterinnen, denen sie in erster Linie durch karitative Hilfe zu bürgerlichen Werten verhelfen wollten. Die Zusammenarbeit mit der Arbeiterinnenbewegung kam für sie nicht in Betracht.
  • gegen Koedukation. Ideal wären für Mädchen weibliche Lehrkräfte, da diese bestimmte Eigenschaften der Weiblichkeit richtig ausbilden und Sittlichkeit vermitteln könnten.
  • Berufstätigkeit für Frauen. Berufstätige Frauen sollten dann aber auf Ehe und Kinder verzichten. Die Mutterschaftsbestimmung wurde als Grundmaßstab angesehen.
(vgl.: Barbara Greven-Aschoff: Die bürgerliche Frauenbewegung in Deutschland 1894-1933, Vandenhoeck&Ruprecht, Göttingen 1981: S.90f). Der gemäßigte Flügel im BdF ging soweit, daß sie sich gegen den radikalen Flügel durchsetzen und den Ausschluß sozialdemokratischer Frauenvereine von Anfang an festsetzten. "Ihre Haltung war einerseits Ausdruck der Klassenunterschiede und der Angst vor der Bedrohung ihrer Privilegien, andererseits aber auch ein klares Votum gegen politisches Engagement überhaupt" (Herlitzius 1995: S.121). In ihrem Vorgehen waren die Radikalen wesentlich massiver als die Gemäßigten, sie organisierten Demonstrationen, Streiks und verfassten Petitionen, u.ä. (Vgl.: Florence Herve (Hrsg.): Geschichte der deutschen Frauenbewegung, Pahl-Rugenstein-Verlag, Köln 1982, S.58f) Als 1899 Marie Stritt den Vorsitz des BdF übernahm, dominierten die Radikalen den Verein. Lautstark forderten sie die Anerkennung freier Liebesbeziehungen, das sexuelle Selbstbestimmungsrecht der Frauen und Gegenmaßnahmen gegen die Verharmlosung von Gewalt gegen Frauen. 1902 war Helene Stöcker Mitbegründerin des Verbandes für Frauenstimmrecht, der durch die Initiative von Lydia Gustava Heymann und Anita Augspurg (ebenfalls Vertreterinnen des radikalen Flügels) entstanden ist. 1903 forderte Helene Stöcker auf einer Tagung des Verbandes für fortschrittliche Frauen öffentlich die rechtliche, soziale und ethische Besserstellung lediger Mütter und ihrer Kinder. Beide Elternteile sollten Verantwortung für die Kinder übernehmen, außerdem forderte sie eine Reform des Ehe- und Familienrechts. Wichtig war ihr auch die ökonomische Unabhängigkeit der Frau, die sie nur erreichen konnte, wenn sie für Hausarbeit und Kindererziehung entlohnt werden würde. Mit diesen Themen sollte sich Helene Stöcker in der Zukunft weitgehend beschäftigen . Ein Ziel Helene Stöckers war die Herausgabe eines eigenen Publikationsorgans. 1903 übernahm sie den literarischen Teil der Frauenrundschau. Die ersten Artikel sorgten in der bürgerlichen Frauenbewegung aber sofort für Aufruhr, so daß Helene Stöcker zum Jahresende 1903 schon wieder aus der Redaktion ausschied. Eine enge Weggefährtin in ihrem Engagement in der Frauenbewegung fand Helene Stöcker in Maria Lischnewska, die sich ebenfalls verstärkt für ledige Mütter einsetzen wollte. Die Idee innerhalb des Verbandes fortschrittlicher Frauen eine Kommission zu bilden, die sich ausschließlich um die Verbesserung der Situation lediger Mütter kümmern sollte, wurde in der Vorstandssitzung abgelehnt. Stöcker und Lischnewska ließen sich aber nicht entmutigen und faßten den Entschluß weitere Maßnahmen in diese Richtung zu unternehmen (vgl. Wickert 1991: S.51f). 1910 wurde die nationalistisch orientierte Gertrud Bäumer Vorsitzende des BdF. Zuvor hatte sich schon das Kräfteverhältnis zugunsten des rechten Flügels aufgrund der politischen und wirtschaftlichen Lage geändert. "Der Staat benötigte keine selbstbewußten Frauen, die ihre Lust an freier Liebe entdeckten, sondern gebärfreudige Mütter und forcierte daher bevölkerungspolitische Gesetzesinitiativen zum Einfuhr- und Verkaufsverbot von Verhütungsmitteln" (Herlitzius 1995: S.122).
 
 

6. Bund für Mutterschutz

  Helene Stöcker suchte nach einem neuen Forum für ihre sexualreformerischen Anschauungen und der Verwirklichung ihrer Ideen für den Mutterschutz. Nach Rücksprache mit verschiedenen Persönlichkeiten aus den unterschiedlichsten Bereichen der Öffentlichkeit, die sich interessiert zeigten an einer Organisation, die sich vorwiegend mit Fragen der Ehe und Mutterschaft beschäftigen sollte, fand am 5. Januar 1905 die erste konstituierende Sitzung des Bundes für Mutterschutz statt. Anwesend waren die Dichterin Ruth Bre, die Frauenrechtlerin Maria Lischnweska, der Rassenhygieniker Alfred Ploetz, die Sozialdemokratin Lily Braun, die Schriftstellerin Adele Schreiber, der damalige Generalsekretär des Handelsvertragsverein Dr. Walter Borgius und verschiedene Ärzte, u.a. Dr. Max Marcuse (vgl. Wickert 1991: S.65 und Gudrun Hamelmann "Helene Stöcker, der Bund für Mutterschutz und Die neue Generation, Haag & Herchen Verlag, Frankfurt a. M., 1992, S.98).Seine Aufgaben und Ziele sah der Bund in der Forderung nach einer reichsgesetzlichen Mutterschaftsversicherung, getragen durch private Beiträge beider Geschlechter und durch öffentliche Mittel und die rechtliche Gleichstellung der unehelichen Kinder mit den ehelichen (vgl. Hamelmann 1992, S.52). Ein wichtiger Unterschied zu anderen Frauenorganisationen war, daß etwa ein Drittel der Mitglieder Männer waren (vgl. Hamelmann 1992, S.51). Das ist bei der Einstellung von Helene Stöcker, die beide Geschlechter als gleichberechtigt ansehen wollte, nicht verwunderlich. Sie ging davon aus, daß die Geschlechter sich bei der Lösung von Problemen für die sich der Bund für Mutterschutz als zuständig ansah, ergänzen könnten (vgl. Wickert 1991, S.65). Schon zu Beginn des Bundes wurde deutlich, daß die Gründungsmitglieder unterschiedliche Auffassungen von der Zielsetzung und Durchführung der praktischen Arbeit im Bund hatten. Helene Stöcker wollte die Organisation zukünftig nutzen, um die Ideen ihrer Neuen Ethik zu propagandieren und einer Reform der Frauenrechte den Weg zu ebnen. Dagegen wollte Ruth Bre den Verein in erster Linie als sozial karitative Wohlfahrtseinrichtung sehen, die ledigen Müttern praktische Hilfe anbietet. Ploetz verfolgte rassenhygienische Ziele, Marcuse sah den Schwerpunkt des Bundes in sexualhygienischen Fragen (Wickert 1991: S.65). Schon knapp zwei Monate nach der Gründung des Vereins kam es zu ersten Distanzierungen seitens einiger Mitglieder gegenüber dem Gründungsaufruf vom 5. Januar 1905. Die erste Fassung des Aufrufes deuteten viele als zu rassenhygienisch orientiert. Es konnte der Eindruck entstehen, daß die Forderung nach Geburtenregelung nur als Instrument zur Züchtung einer neuen Rasse dienen sollte. Ruth Bre, die ihre agrarreformerischen Ansätze für den Mutterschutz (Landerholungsheime für Mütter, etc.) im Bund nicht durchsetzen konnte, wollte sich nicht mit einer neuen Fassung einverstanden erklären und schied aus dem Bund aus (vgl.u.a. Bernd Nowacki: Der Bund für Mutterschutz (1905-1933), Matthiesen-Verlag, Husum, 1983, S.24). Helene Stöcker hatte den Vorsitz des Bundes und die Schriftleitung für das Publikationsorgan "Mutterschutz" übernommen. Diese Zeitschrift diente u.a. dazu den offenen Zugang zu Verhütungsmitteln zu fordern und die Bevölkerung über diese Mittel auch aufzuklären. 1907 wurde Helene Stöckers Lebensgefährte Bruno Springer in den Vorstand des Bundes für Mutterschutz gewählt. Seine Rechtsanwaltspraxis diente auch als Beratungsstelle für ledige Mütter. Schon ab dem 1. April 1906 standen Stöcker und Lischnewska ratsuchenden Müttern und Arbeiterinnen in den Räumen des Bundes für Mutterschutz zur Verfügung. 1907 zählte der Bund ca. 4000 Mitglieder in verschiedenen Städten, die in Ortsgruppen organisiert waren. Im gleichen Jahr kam es zum Bruch zwischen Stöcker und Marcuse, der die Interessen des Bundes mehr auf Sexualprobleme konzentrieren wollte. Marcuse wurde im Dezember 1907 zwar aus dem Bund ausgeschlossen, aber der Verlag, der die Zeitschrift "Mutterschutz" herausbrachte, konnte sich eher mit den Ansichten Marcuse identifizieren und übertrug Marcuse die Schriftleitung, der diese dann bis 1915 inne hatte. 1908 erschien ein neues Publikationsorgan des Bundes für Mutterschutzes unter der Schriftleitung Helene Stöckers: "Die neue Generation". In dieser Zeitschrift forderte Helene Stöcker u.a. die Abschaffung des Abtreibungsparagraphen. Die Debatte zwischen dem radikalen und gemäßigten Flügel der bürgerlichen Frauenbewegung fand daraufhin den Höhepunkt in ihrer Auseinandersetzung. Viele Vertreterinnen der Gemäßigten, wie z.B. Helene Lange, Gertrud Bäumer, Marianne Weber reagierten mit Empörung auf die Forderungen Helene Stöckers und verfassten Gegenartikel in ihren eigenen Zeitschriften. 1912 stellte der Bund für Mutterschutz den Antrag zur Aufnahme im Bund deutscher Frauenvereine, der aber abgewiesen wurde "nicht etwa wegen der Mitgliedschaft von Männern in der Organisation, sondern weil seine Politik nicht dem Volkswohl diene (Wickert 1991, S.74). 1909/10 kam es zu einer weiteren Auseinandersetzung im Bund. Der Streit mit Adele Schreiber belastete Helene Stöcker auch privat. Grund war eine mangelhafte Kassen- und Geschäftsführung für die Helene Stöcker von Adele Schreiber verantwortlich gemacht wurde. Lange schon schwelende Konflikte brachen nun hervor und wurden auch in der Öffentlichkeit ausgetragen. Die Auseinandersetzung wurde teilweise sogar gerichtlich verhandelt. Im Frühjahr 1910 hatte Helene Stöcker die Finanzlage des Bundes aber wieder stabilisiert, so daß Adele Schreiber sich geschlagen geben mußte. 1911 fand die Gründungskonferenz der Internationalen Vereinigung für Mutterschutz und Sexualreform statt. Helene Stöckers Position im Bund wurde gestärkt, nicht zuletzt weil "Die neue Generation" auch für diese Vereinigung dienen sollte. Bis 1914 reiste Helene Stöcker als Vertreterin des Bundes in verschiedene Städte um Vorträge über Reformvorstellungen zu halten und Berichte über praktische Arbeiten abzugeben. Nicht alle Mitglieder des Bundes für Mutterschutz waren mit den Beiträgen Helene Stöckers zur Tagespolitik und zum Pazifismus in "Der neuen Generation" einverstanden. Sie hatten Befürchtungen, daß das ursprüngliche Anliegen, die sexualreformerische Bewegung zu unterstützen, zu kurz komme. Da Helene Stöcker aber auf ihr Recht auf freie Meinungsäußerung als Redakteurin beharrte, einigten sich die Mitglieder darauf, daß bei allen tagespolitischen Beiträgen der Autor genannt werden müsse. 1922 wurden soweit die Richtlinien des Bundes, ganz im Sinne von Helene Stöcker, geändert, daß sich dessen Arbeit auf den Menschenschutz ausweitet und sich pazifistisch engagiert. Der Bund tritt dem Deutschen Friedenskartell ( Dachorganisation pazifistischer Vereinigungen in Deutschland) bei. Ab 1922 beschäftigte sich der Bund immer ausschließlicher mit dem Kampf um die Strafrechtreform, z.B. Veränderung des Abtreibungsgesetzes. Im Januar 1924 wurde in Hamburg die erste Sexualberatungsstelle des Bundes eröffnet. 90% der Besucher waren Frauen. Viele Mitglieder des Bundes waren der Ansicht, daß Frauen als leitende Ärztinnen besser geeignet seien als Männer, da sie ratsuchenden Frauen in familiären, sexuellen, emotionalen und wirtschaftlichen Fragen besser beraten könnten. Die Männer würden zu sehr nach technischen Lösungen für die Probleme suchen (trotzdem blieben Frauen auf diesen leitenden Positionen in der Minderheit.). Dies war ein Ausdruck der Sexualdebatte um die 20er Jahre. Männliche Sexualreformer propagandierten zwar auch die sexuelle Aufklärung und die individuelle Selbstbestimmung der Frau, diese sollte aber in das männliche Weltbild passen. "Als Ideal galt die sexuell befriedigte Mutter, Geliebte, Kameradin und Berufstätige, die über rationelle Haushaltsgeräte, Verhütungsmittel und einem sensiblen Mann verfügte, der die neuen sexuellen Techniken beherrschte"(Wickert 1991, S.109). Helene Stöcker sah dieses Ideal als widersprüchlich an. Äußere Umstände und Techniken könnten ihrer Meinung nach die Partnerschaft nicht retten, wenn es keine seelische Verbindung zwischen den Partnern mehr gäbe. In ihrem 1922 veröffentlichten Roman "Liebe" beschreibt sie dieses Problem an den Hauptfiguren Irene und Robert. Die Sexualberatungsstellen des Bundes für Mutterschutz übernahmen verschiedene Aufgaben:

  • Aufklärung über Verhütung, teilweise Abgabe von Verhütungsmitteln
  • Schwangerschaftsberatung
  • Aufklärung über die Gefahren von Geschlechtskrankheiten
Der Bund forderte ein entschärftes Abtreibungsgesetz, d.h. Abtreibung sollte erlaubt werden bei medizinischen und sozialen Problemen und auch der eugenische Gesichtspunkt sollte nicht außer Acht gelassen werden. Helene Stöcker, dachte "zwar über die Zweckmäßigkeit eines Zeugungsverbotes nach, lehnte jedoch eine strikte Verordnung mit dem Hinweis auf das Selbstbestimmungsrecht des mündigen Individuums und die Möglichkeit der Aufklärung ab" (Wickert 1991, S.111). In dieser Zeit zog sie sich aus den sexualreformerischen Debatten zurück und engagierte sich für den Pazifismus. 1929 und 1930 trat der Bund für Mutterschutz durch den 60. Geburtstag Helene Stöckers und durch sein 25jähriges Bestehen in den Blickpunkt der Öffentlichkeit, doch die finanziellen Probleme stellten seine Zukunft in Frage. Die Zeitschrift "Die neue Generation" erschien inzwischen nur noch vierteljährlich.

7. Grenzen der Neuen Ethik im Privatleben von Helene Stöcker

  1897 hatte Helene Stöcker den verheirateten Alexander Tille kennengelernt. Sie ging mit ihm ein Verhältnis ein, trotz der strengen Moralvorstellungen in der Öffentlichkeit des wilhelminischen Kaiserreiches. Tille war zeitweise an der Berliner Universität beschäftigt. Seine Frau lebte mit den zwei Kindern in Glasgow. Helene Stöcker und Alexander Tille verband das große Interesse an Nietzsche, an der deutschen Lyrik und der Romantik. "Nähe, Vertrauen, sublimierte Erotik prägten die Begegnungen mehr und mehr" (Wickert 1991, S.41). Nach einem halben Jahr, im März 1897, ging Tille wieder zurück zu seiner Familie nach Glasgow und blieb in Briefkontakt mit Helene Stöcker. Als Tilles Frau 1898 unerwartet starb, stellte sich für Helene Stöcker die Frage: Mutter sein für die zwei verwaisten Kinder oder weiter den Weg der geistigen und beruflichen Weiterentwicklung gehen? Stöcker folgte Tille nach Glasgow, mietete sich aber im Studentinnenwohnheim ein, um wenigstens einen kleinen Freiraum weiterhin für sich zu haben. 1899 legte Tille seine Professur an der Universität Glasgow nieder. Zur gleichen Zeit zerbrach auch die Beziehung zu Helene Stöcker, zum großen Teil wegen unterschiedlicher Lebensvorstellungen. "Sie (Helene Stöcker) hätte Frau Tille werden müssen, um ihre Liebe zu leben. Helene Stöcker wollte jedoch Frau Stöcker bleiben und ihre schon gewonnene Identität erhalten und ein eigenständiges Leben führen" (Wickert 1991, S.43). Die Trennung war schmerzlich für Helene Stöcker. Jahre später kam sie zu der Überzeugung, daß für Tille die erotische Anziehung und die Bereitschaft der Frau sich dem Mann unterzuordnen wichtiger war als die seelische Nähe. Er wollte sie als Mutter seiner Kinder, damit er sich weiterhin ganz auf seine Arbeit konzentrieren konnte. Er verstand ihren Wunsch nach geistiger Weiterentwicklung nicht und war der Ansicht, daß ihr die Hausfrauen- und Mutterrolle vollkommen genügen sollte (Wickert 1991, S.43f). Die Enttäuschung nach der Beziehung zu Tille beschäftigte sie noch lange. Wenige Male traf sie ihren früheren Geliebten später wieder und jedesmal brachen bei ihr alte Wunden wieder auf. Trotz dieser Erfahrung hielt sie weiter an ihren Idealen, vorbehaltlos lieben zu können und den Anforderungen einer selbständigen Frau gerecht zu werden, fest. Ausdruck dieser Überzeugung war auch die um die Jahrhundertwende langsam ausgereifte Idee der Neuen Ethik. 1905 lernte sie ihren späteren Lebensgefährten Bruno Springer kennen. Springer war studierter Rechtswissenschaftler, vom Charakter eher gegensätzlich zu Helene Stöcker, scheu und weniger unternehmungslustig. Stöcker und Springer hatten nie die Absicht zu heiraten, beide betrachteten die Beziehung als persönliche Angelegenheit zwischen zwei Menschen, erst ein Kind sollte Eltern dazu bewegen, die Beziehung rechtlich und gesellschaftlich abzusichern. Bruno Springer wurde ebenfalls Mitglied im Bund für Mutterschutz. 1912 bezog das Paar eine gemeinsame Wohnung in Berlin. Im ersten Weltkrieg gab es die ersten Anzeichen einer Entfremdung zwischen Stöcker und Springer. Bruno Springer hatte sich als Kriegsfreiwilliger für die Front gemeldet, hingegen Helene Stöcker sich immer mehr für die Friedensbewegung engagierte. Helene Stöcker schrieb viele Briefe zu ihrem Lebensgefährten an die Front. "Sie kämpfte um ein neues besseres Leben, um die Neubelebung und den Erhalt der Liebe, auch wenn Freunde ihr bedeuteten, es sei unwürdig darauf zu hoffen, er werde sie noch einmal liebhaben" (Wickert 1991,S 90). Auch nach der Rückkehr Springers aus dem Krieg verstärkte sich die Entfremdung zwischen den beiden weiter. Bruno Springer ging auf die Annäherungsversuche Stöckers nicht ein, im Gegenteil, mit der Zeit wurde er immer introvertierter. Helene Stöcker empfand nicht nur die Wesensverschiedenheiten sondern auch die unterschiedlichen Weltanschauungen als entzweiend. Am 12. Februar 1931 stirbt Bruno Springer plötzlich. Die Umstände seines Todes sind bis heute nicht geklärt. Stöcker spricht von Spätfolgen eines Unfalls, vieles spricht aber auch für Selbstmord. Springer setzte Stöcker als Alleinerbe ein, seinen letzten Willen interpretierte sie als Danksagung für die gemeinsamen Jahre, in denen er diesen Dank nie aussprechen konnte. Genaugenommen erfüllte die Beziehung zu Bruno Springer in den letzten Jahren Helene Stöckers Ansprüche nicht. Und so verglich sie ihn später in ihren Erinnerungen auch mit den Männern, "die sie in ihren jungen Jahren als die unreifen Menschen bezeichnet hatte, die keine höheren moralischen Werte haben, an denen sie ihr Leben in der Achtung vor ihren Mitmenschen orientieren" (Wickert 1991, S.94). Aufgrund des unfreiwilligen Verzichts auf Erotik und Sexualität in ihrer Beziehung, zog sie sich in der Öffentlichkeit weitgehend aus den Diskussionen zu diesem Thema zurück. Sie engagierte sich nur noch für den Pazifismus. In den Beziehungen zu ihren Partnern mußte sie schmerzlich die Grenzen ihrer eigenen Vorstellung und Idealen von der Neuen Ethik kennenlernen.

8. Pazifistisches Engagement

  Den Kriegsausbruch am 31. Juli 1914 erlebte Helene Stöcker in Berlin. Die Kriegsbegeisterung der Menschen auf den Straßen war für sie unglaublich und beängstigend. Sie schreibt zum Kriegsausbruch: "dies törrichte Zerreissen der anderen Nationen, diese Entfesselung aller brutalen Instinkte. Die mühsame jahrhundertelange Arbeit sittlicher Verfeinerung- ein großes Umsonst! Und so viele lassen sich mitreißen, von denen man es nie erwartet hätte" (Wickert 1991, S.95). Unterschiedliche Kriegshaltungen beendeten viele Freundschaften. Auch Helene Stöcker mußte erkennen, daß einige ihrer früheren Freunde begeisterte Kriegsbefürworter waren. Für sie unverständlich, sahen einige im Krieg die Chance auf die Abschaffung des Drei-Klassen-Wahlrechts, und damit die Durchsetzung des Frauenwahlrechts, andere bezeichneten den Krieg als Mittel die deutsche Kultur vor dem Untergang zu retten. 1915 trat Helene Stöcker aus der Kirche aus, bisher hatte sie dafür keinen zwingenden Grund gesehen, und hatte auch Rücksicht auf ihre streng religiösen Eltern genommen, aber da die Kirche in dieser Zeit das Kriegstreiben befürwortete, wollte sie dies durch ihre Mitgliedschaft nicht noch weiter unterstützen. Vom 28. April bis zum 1. Mai 1915 fand in Den Haag die Internationale Frauenfriedenskonferenz statt. An dieser Konferenz nahmen einige deutsche Frauen, die eher dem linken Flügel der Frauenbewegung zugerechnet wurden (u.a. Helene Stöcker, Gustava Heymann, Anita Augspurg), teil. Diese Konferenz wurde von nationalistisch orientierten Frauen, z.B. Gertrud Bäumer abgelehnt, und die deutschen Beteiligten waren in ihren Augen nicht mehr dazu berechtigt aktiv in der Frauenbewegung mitzuarbeiten. Helene Stöcker war begeistert von der friedlichen Atmosphäre bei den Sitzungen, es wurde angeregt nach Problemlösungen gesucht. Entstanden ist in diesen Tagen der Internationale Frauenausschuss für dauernden Frieden der sich mit den kriegsführenden Parteien in Verbindung setzte und die Ergebnisse der Konferenz vortrug, z.B. wurde die Gründung eines Völkerbundes vorgeschlagen. "Helene Stöcker kam in diesen Jahren von ihrer bisherigen Vorstellung ab, daß die Menschheitsentwicklung ein Prozeß unumkehrbarer, aufeinander folgender Stufen kultureller Höherentwicklung sei. Der Krieg so schrieb sie 1917 "(...) sei der Rückfall auf die Kulturstufe der Hexenverbrennung und des Scheiterhaufens" (Wickert 1991, S.100). 1916 war Helene Stöcker Gründungsmitglied der Zentralstelle Völkerrecht. Deutsche Zentrale für dauernden Frieden und Völkerverständigung, nachdem sie ihre pazifistische Arbeit einschränken mußte, da der Bund Neues Vaterland, bei dem sie seit 1914 Mitglied war, verboten wurde. Dieser setzte seine Arbeit mit gleichen demokratischen Zielen 1922 unter dem Namen Deutsche Liga für Menschenrechte, bei dem Helene Stöcker bis 1932 im Vorstand tätig war, fort. Helene Stöcker waren nicht die außenpolitischen Strategien zur Verhinderung von Kriegen von Bedeutung, sie interessierte sich für Fragen, die sich mit den innerstaatlichen Bedingungen des Krieges und den notwendigen gesellschaftlichen Veränderungen zur Sicherung des Friedens beschäftigten. Etwas weniger radikal wegen der Zensur, der auch Die neue Generation unterlag, machte Helene Stöcker den Pazifismus und ihre Ablehnung zum Krieg, zum Hauptthema ihrer Zeitschrift, wie in ihren späteren Publikationen. Christl Wickert geht in ihrer Biographie davon aus, daß Helene Stöcker in Der neuen Generation mit Absicht eine leicht nationalistische Sprache benutzt, um die Zensoren zu blenden. Die Inhalte ihrer Texte, zeigen aber deutlich ihre Einstellung, daß sie den Willen der verschiedenen Staaten nach absoluter Souveränität als Kriegsursache ansieht. Das Kriegsende veranlaßte Helene Stöcker zu neuen Hoffnungen, die sie auch erst als berechtigt ansah, als Pazifisten erstmals wichtige politische Ämter übertragen bekamen. Helene Stöcker konnte sich sogar vorstellen in nächster Zeit mehr parteipolitisch zu arbeiten, um sich aktiv am Aufbau der neuen Republik zu beteiligen. Ihre neue Ethik sah sie als Beitrag zur angestrebten Reform der Kultur und Moral in einem neuen demokratischen deutschen Staat an (vgl. Wickert, s.95ff). Helene Stöcker kann keiner Hauptrichtung des deutschen Pazifismus nach dem 1. Weltkrieg (Gemäßigte, die Befürworter des Völkerbundes zur Friedenssicherung /Radikale Kriegsgegner, oft KPD-Mitglieder) zugeordnet werden. 1922 gründete sich die Dachorganisation Deutsches Friedenskartell, daß alle Friedensorganisationen miteinander verbinden und einer weiteren Zersplitterung in der Pazifismusbewegung entgegenwirken sollte. Helene Stöcker wurde zur Vizepräsidentin ernannt. Bis 1932 nahm Helene Stöcker an allen Weltfriedenskonferenzen teil. In "Der neuen Generation" kritisierte sie immer wieder die politischen Bemühungen um die Sicherung des Friedens, sie sprach "darin das nach ihrer Meinung zu große Vertrauen in die Möglichkeiten des Völkerbundes an und bemängelte, daß ein Verteidigungskrieg nicht geächtet wurde"(Wickert 1991, S.120). Trotz der Kritik am Völkerbund sah sie ihn als Instrument der gegebenen Umstände zur Verwirklichung ihrer pazifistischen Ziele. Ebenfalls konnte sie die Abwehr vieler Deutscher gegenüber der Annäherung zu Rußland nicht verstehen. Sie war beeindruckt von den Anfängen neuer Reformen in Rußland, insbesondere von der Offenheit in der Abtreibungsfrage. Die Friedensbedingungen des Versailler Vertages von 1919 (hohe Reparationsleistungen, Alleinschuld Deutschland) führten bei der deutschen Bevölkerung zu Mißfallen und das Interesse an der Friedensbewegung nahm stark ab. Helene Stöcker bezeichnete den Friedensvertrag als schonungslose Rache der Siegermächte. "Sie verfiel allerdings nicht in einen lähmenden Fatalismus, sondern in einen heute schwer nachvollziehbaren Zweckoptimismus, der sich letztendlich in ihrem schon beinahe rastlosen Engagement in den verschiedenen Organisationen der Friedensbewegung niederschlug" (Wickert 1991, S.123).

  • bis 1933 Präsidiumsmitglied der 1918 gegründeten Deutschen Liga für Völkerbund
  • 1919 hatte sie sich mit einigen Sozialisten und Anarchisten dem Bund der Kriegsdienstgegner (ab 1922 Deutsche Gruppe der Internationale der Kriegsdienstgegner) angeschlossen. Hauptkriegsursachen sahen die Mitglieder in Rassen- , Glaubens- und Klassenunterschiede der beteiligten Nationen. Für Helene Stöcker war die Ablehnung jeder Wehrpflicht wichtiger Ausgangspunkt für die Vermeidung jeglicher Kriege. Sie plädierte für absolute Gewaltfreiheit, die ebenfalls beitragen würde, für die moralische-ethische Höherentwicklung des Menschen. "Das sich im Sinne der Neuen Ethik höherentwickelnde Individuum unterstützte dann die friedliche Veränderungen der Normen und Werte, die zu dem Staate führen, der seine Bürger gleichermaßen nach innen und außen schützen werde" (Wickert 1991, S.124). Auf der Den Haager Weltfriedenskonferenz 1923 sagte sie "Der Mensch habe nicht dem Staat zu dienen, sondern der Staat dem Menschen" (Wickert 1991, S.124).
  • Ende der 20er Jahre verstärkte sich Helene Stöckers Kritik am Kapitalismus. In diesem Zusammenhang steht auch ihr Engagement in der Gesellschaft der Freunde des neuen Rußlands und in der Gruppe Revolutionäre Pazifisten. Den Sozialismus sah sie immer mehr als alternative Gesellschaftsform an, die eine Friedensgarantie bieten könnte. Mit anderen Mitgliedern organisierte sie Sprachkurse, Vortragsabende und Ausstellungen, um Rußland und seine Gesellschaft der deutschen Bevölkerung näher zu bringen. In diesen Jahren unternahm sie auch mehrere Reisen nach Rußland.
  • 1929 sahen Helene Stöcker und ihr langjähriger Freund Kurt Hiller ihre Idee in der Verbindung von Pazifismus und Sozialismus in der Deutschen Friedensgesellschaft nicht mehr aufgehoben und schlossen sich dem 1926 radikalpazifistischen Verband Linkskartell an. Mit den Mitgliedern der ebenfalls entstandenen Gruppe Revolutionärer Pazifisten waren sie sich über die kapitalistische Gesellschaftsordnung als Hauptursache für den Krieg einig.
9. Emigration

  Anfang der 30er Jahre verlor Helene Stöcker an Mut. Gesundheitlich durch eine Angina pectoris schwer angeschlagen, mußte sie auch Rückschläge in der Friedensbewegung einstecken. 1933 wartete Helene Stöcker die Ergebnisse der Reichstagswahlen in Tschechien, in der Nähe der deutschen Grenze, ab. Nach der Bekanntgabe des Sieges der Nationalsozialisten holte sie nur die nötigsten Sachen aus ihrer Wohnung in Berlin und fuhr nach Zürich. Gleich im März 1933 wurde der Bund für Mutterschutz von nationalsozialistischen Frauen übernommen und verfolgte in den nächsten Jahren Ziele mit denen sich Helene Stöcker nie einverstanden erklärt hätte. Bis 1938 lebte Helene Stöcker in der Schweiz bei Freunden, dann bekam sie eine Aufenthaltsgenehmigung für England und zog nach London. Als der 1. Weltkrieg am 1. September1939 ausbrach, befand sie sich gerade auf einen Kongreß in Stockholm. Als die Deutschen in Dänemark einmarschierten, kümmerte sie sich um die Einreisegenehmigung für die USA, wo sie dann bis zu ihrem Tod am 23. Februar 1943 lebte. Seit 1934 hatte sich ihr Gesundheitszustand zunehmend verschlechtert. Neben der Gesundheit mußte sie sich Sorgen um ihre finanzielle Situation machen, u.a. bekam sie Unterstützung vom Flüchtlingskomitee der Internationalen Frauenliga für Frieden und Freiheit. Selbst hatte sie nur noch geringe Einkommen, da sie wegen ihrer Krankheit seit 1935 keine Vortragsreisen mehr unternehmen konnte. Helene Stöcker fühlte sich durch die erzwungene Emigration ihres kulturellen Umfelds beraubt. USA hatte sie sich als Emigrationsort ausgesucht, wegen der Nähe seiner kulturellen Ausrichtung an Europa (vgl. Wickert 1991: S.133f).

10. Helene Stöckers Bild in der Öffentlichkeit
Helene Stöcker war eine prominente Vertreterin des radikalen Flügels der bürgerlichen Frauen- und Friedensbewegung. Diese Popularität beruht nicht nur auf der Anerkennung ihrer frauenpolitischen und pazifistischen Tätigkeiten, sondern sie erregte in der Öffentlichkeit immer wieder Aufsehen mit ihren radikalen Forderungen und war dadurch eine sehr umstrittene Frau. Die ersten Kritiken bekam sie aus den Reihen der bürgerlichen Frauenbewegung, der sie sich wegen gleicher Ziele (Recht der Frau auf Bildung und Berufstätigkeit) am Anfang ihres Engagements in der Frauenbewegung angeschlossen hatte. Um die Jahrhundertwende zählte sie sich zu den Radikalen um Minna Cauer in der Frauenbewegung. Nicht nur, daß gemäßigter und radikaler Flügel in der bürgerlichen Frauenbewegung unterschiedliche Ziele verfolgten, sie kritisierten sich teilweise auch öffentlich. Die von Helene Stöcker propagandierten Ideen der Neuen Ethik sorgten für Empörung bei den gemäßigten Vertreterinnen. Helene Stöcker machte keinen Unterschied bei ihrer Forderung nach der Berufstätigkeit für Frauen zwischen verheirateten und unverheirateten Frauen, der Beruf sollte den Frauen eine Möglichkeit bieten ihre Persönlichkeit weiterzuentwickeln. Helene Lange (gemäßigte Vertreterin) wollte die Berufstätigkeit für ledige Frauen, um ihnen ein standesgemäßes Einkommen zu sichern, und nicht weil die Arbeit ihrer Selbstverwirklichung o.ä. dienen sollte. Mutterschaft und Berufstätigkeit waren ihrer Meinung nicht miteinander vereinbar. Die Mehrheit der gemäßigten Frauen war überzeugt davon, "daß die ökonomisch selbständige Frau bestenfalls Gebärerin, aber nicht Mutter sein kann" (Rantzsch 1984, S.62). Christl Wickert zitiert Helene Stöcker, die Helene Lange und Gertrud Bäumer "für Vertreterinnen des `strengen und einseitigen Types der Frauenbewegung jener Zeit´ hielt, deren `kühle Scheidung ... gegenüber Frauen, die sich dem strengen Dienst der Wissenschaft widmeten und damit gewissermaßen auf Ehe und Mutterschaft verzichten´,sie ablehnte"(Wickert 1991, S.49). Die Forderung nach der Aufwertung der Mutterschaft lediger Frauen kritisierte auch Alice Salomon. Diese hatte gegen den Mutterschutz an sich und im Einzelfall nichts einzuwenden, "wohl aber gegen das gesellschaftspolitische Programm, was sie hinter dieser Arbeit zu Recht vermutet: Die Aufwertung der nicht ehelichen Mutterschaft als soziologisches Programm" (Christine Wittrock: "Weiblichkeitsmythen", Sendler- Verlag, Frankfurt a.M., 1983, S.57). Ein weiterer Streitpunkt zwischen Helene Lange und Helene Stöcker war die Vorstellung über die Ausbildung von Mädchen. Stöcker befürwortete die Koedukation, während Lange der Meinung war, ganz im Sinne der gemäßigten bürgerlichen Frauenbewegung, daß Mädchen nur von Lehrerinnen unterrichtet werden sollten (vgl. Wickert 1991, S.49). Helene Stöckers sexualreformerische Forderungen stießen auf die schärfste Kritik nicht nur in der Frauenbewegung. Diese Forderungen wurden als die öffentliche Sittlichkeit gefährdend eingestuft, u.a. von den Behörden des preußisch- deutschen Kaiserreiches, der bürgerlichen Sittlichkeitsbewegung, kirchlicher Kreise, u.ä.. Gertrud Bäumer und Helene Lange sahen in dem öffentlichen Interesse an der Neuen Ethik "eine herdenmäßige Begeisterung für das Illegitime" (Rantzsch 1984, S.71). In feministischer Literatur zum Ende des 20.Jahrhunderts (z.B. Marielouise Janssen- Jurreit: "Nationalbiologie, Sexualreform und Geburtenrückgang - über die Zusammenhänge von Bevölkerungspolitik und Frauenbewegung um die Jahrhundertwende" in: Gabriele Dietze (Hrsg.) "Die Überwindung der Sprachlosigkeit", Luchterhand- Verlag, Darmstadt und Neuwied, 1979) wird Helene Stöcker ihre Nähe zu Rassenhygienikern zum Vorwurf gemacht, gerade im Zusammenhang mit ihrer Arbeit in bestimmten Vereinen (z.B. Berliner Gesellschaft für Rassenhygiene) und mit der von ihr gegründeten Organisation Bund für Mutterschutz. Richtig ist, daß bei der Gründung des Bundes für Mutterschutz namhafte Rassenhygieniker z.B. Alfred Ploetz beteiligt waren. Wie aber in Kapitel sechs beschrieben, waren sich die Mitglieder des Bundes nicht einig über dessen Ziele, so gab es nach kurzen Bestehen eine Aufrufänderung (unterstützt u.a. von Helene Stöcker), der die praktische Seite des Mutterschutzes in den Vordergrund stellte und nicht auf die von einigen Mitgliedern als Ziel ausgesprochene Rassenverbesserung und Auslese einging (vgl. Herlitzius 1996, S.153f). Für Heide Schlüpmann, die sich in ihrem Text "Radikalisierung der Philosophie" (aus: Feministische Studien, 3.Jg, 1984, Nr.1) ) auf die Kritik Marielouise Janssen-Jurreits an Helene Stöcker bezieht, wirft dieser vor, daß sie (Janssen- Jurreit) die Arbeit des Bundes nicht in Verbindung mit den bevölkerungspolitischen Debatten der damaligen Zeit sieht. Schlüpmann kritisiert, daß Janssen-Jurreits Feststellung "progressive Reformbewegungen zur Sexualreform und für eine Mutterschutzgesetzgebung mit der rassehygienischen und eugenischen Bewegung verschmolzen" (Janssen-Jureit 1979: S.141) dazu verleitet, darin Tendenzen zu erkennen, die später zum Faschismus führten. Ihrer Meinung nach läßt sich Janssen -Jurreit zu sehr von den damals noch nicht negativ belasteten Vokabeln, wie z.B. Rassenhygiene, beeinflussen. Die Rolle Helene Stöckers in dieser Debatte sieht Schlüpmann eher dahingehend, daß diese, die im Bund geforderte Geburtenregelung nicht als Beihilfe zum Sozialstaat, sondern als Beitrag zur Individualisierung und Selbstbestimmung fordert (vgl. Schlüpmann 1984, S.30). Es gibt noch viele Beispiele wie umstritten die Arbeit Helene Stöckers waren. Diese Uneinigkeit macht sich auch in den einzelnen Biographien von Helene Stöcker bemerkbar. Die mir vorliegenden Biographien oder Texte, die sich mit der Arbeit Helene Stöckers beschäftigen, sehen sie aus ganz verschiedenen Perspektiven und beurteilen ihre Arbeit in unterschiedlichster Weise. Christl Wickert stellt Helene Stöckers Engagement für die Gleichstellung der Geschlechter in einer Beziehung, sowohl im geistigen und auch im sexuellen Bereich, in den Vordergrund ihrer Biographie. Sie kritisiert in keiner Weise Helene Stöckers Arbeit oder Ideale. Petra Rantzsch, die in der DDR aufgewachsen ist, legt in ihren biographischen Ausführungen viel mehr Wert auf Herausstellung des Interesses Helene Stöckers am Sozialismus und deren Beziehung zur proletarischen Frauenbewegung. Beide Biographien unterscheiden sich darin, daß Wickert Helene Stöcker ihr Leben lang von Parteien unabhängig agieren sieht, während Rantzsch in der Arbeit Stöckers eine enge Verbindung mit sozialistischen Parteien sieht. Anette Herlitzius sieht Helene Stöcker in ihrem Buch "Frauenbefreiung und Rassenideologie" wesentlich kritischer, gerade im Zusammenhang mit den eugenischen Tendenzen in ihrer Arbeit. Für mich ist es schwer, ein einheitliches Urteil über Helene Stöcker zu fällen, da mir ihre eigenen Aufzeichnungen und ihre fast vollendete Autobiographie nicht zur Verfügung stehen, und ich nur Vermutungen über die eigentlichen Ziele ihrer verschiedenen Tätigkeiten äußern kann. Festzuhalten ist aber, daß Helene Stöcker eine der radikalsten Mitstreiterin in der deutschen Frauen- und Friedensbewegung war.
 
 
 

11. Literaturverzeichnis

Greven-Aschoff, Barbara "Die bürgerliche
Frauenbewegung in Deutschland 1894-1933"
Vandenhoeck&Ruprecht,
Göttingen: 1981

Hamelmann, Gudrun
"Helene Stöcker,
der Bund für Mutterschutz und Die neue Generation"
Haag und Herchen-Verlag,
Frankfurt am Main: 1992

Herlitzius, Anette
"Frauenbefreiung
und Rassenideologie"
Deutscher Universitätsverlag
GmbH, Wiesbaden: 1995

Herve, Florence (Hg.)
"Geschichte der deutschen
Frauenbewegung"
Pahl-Rugenstein-Verlag,
Köln: 1982

Janssen-Jurreit, Marielouise
"Nationalbiologie, Sexualreform und Geburtenrückgang - über die Zusammenhänge von Bevölkerungspolitik und Frauenbewegung um die Jahrhundertwende"
in: Gabriele Dietz (Hg.)
"Die Überwindung der Sprachlosigkeit"
Luchterhand-Verlag,
Darmstadt und Neuwied. 1979, S.139f

Nowacki, Bernd
"Der Bund für Mutterschutz (1905-1933)"
Matthiesen Verlag,
Husum: 1983

Rantzsch, Petra
"Helene Stöcker - Zwischen Pazifismus und Revolution"
Buchverlag Der Morgen,
Berlin: 1984

Schlüpmann, Heide
"Radikalisierung der Philosophie- die Nietzsche Rezeption und die sexualpolitische Publizistik Helene Stöckers"
in. Feministische Studien 3.Jg., 1984, Nr.1

Stöcker, Helene
"Helene Stöcker" (Lebenslauf)
aus: Ariadne- Almanach des Archivs der deutschen Frauenbewegung
Heft 5, Juli 1986

Wickert, Christl
"Helene Stöcker - Frauenrechtlerin, Sexualreformerin und Pazifistin"
Dietz-Verlag, Bonn: 1991

Wittrock, Christine
"Weiblichkeitsmythen- Das Frauenbild im Faschismus und seine Vorläufer in der Frauenbewegung der 20er Jahre"
Sendler Verlag, Frankfurt am Main: 1983

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